»Spätes Mittagessen.«
»Hungrig?«
War ich nicht, aber ich gestand, dass ich ziemlich scharf auf eine Tasse Kaffee war. Das Medizinstudium hatte mich in die Koffeinabhängigkeit getrieben. »Du hast Glück«, sagte Jason. »Ich hab auf der Fahrt hierher ein Pfund Guatemaltekischen gekauft.« Die Guatemalteken, unbekümmert um das Ende der Welt, ernteten also immer noch Kaffeebohnen. »Ich setz eine Kanne auf. Dann zeig ich dir alles.«
Wir machten einen Rundgang durchs Haus. Es hatte eine gewisse Zwanzigstes-Jahrhundert-Verspieltheit, mit apfelgrün und herbstorange gestrichenen Wänden, soliden antiquarischen Möbeln, Messingbetten und Spitzenvorhängen vor bauchigem Fensterglas, an dem unablässig der Regen herabströmte. Moderne Annehmlichkeiten in der Küche und im Wohnzimmer — großer Fernseher, Musikanlage, Internetanschluss. Behaglich im Regen. Nach unten zurückgekehrt, schenkte Jason den Kaffee ein. Wir saßen am Küchentisch und brachten uns auf den neuesten Stand.
Was seine Arbeit betraf, äußerte sich Jason unbestimmt, aus bescheidener Zurückhaltung oder aus Sicherheitsgründen. In den acht Jahren, nachdem die wahre Natur des Spins enthüllt worden war, hatte er einen Doktortitel in Astrophysik erworben, dann aber die Universität verlassen, um, in vorerst noch nachgeordneter Position, in E. D.s Perihelion-Stiftung einzutreten. Vielleicht kein schlechter Zug, war E. D. doch inzwischen ein hochrangiges Mitglied von Präsident Walkers Sonderausschuss für Globale Umweltkrisenplanung. Laut Jase stand Perihelion kurz davor, von einer Raumfahrt-Expertenkommission in ein offizielles Beratungsgremium umgewandelt zu werden, ausdrücklich autorisiert, politische Vorgaben zu machen.
»Ist das denn legal?«
»Sei nicht naiv, Tyler. E. D. hat sich von Lawton Industries zurückgezogen. Er hat seinen Vorstandsposten niedergelegt, und seine Anteile werden treuhänderisch verwaltet. Unseren Anwälten zufolge ist er konfliktfrei.«
»Und was machst du bei Perihelion?«
Er lächelte. »Ich höre den Älteren aufmerksam zu und mache höfliche Vorschläge. Aber erzähl mir von der Medizin.«
Er fragte mich, ob ich es widerwärtig fände, derart viel menschliche Schwäche und Krankheit zu Gesicht zu bekommen. Also erzählte ich ihm von meinem Anatomieseminar im zweiten Jahr. Zusammen mit einem Dutzend anderer Studenten hatte ich eine menschliche Leiche seziert und deren Inhalt nach Größe, Farbe, Funktion und Gewicht sortiert. Keine angenehme Erfahrung. Der einzige Trost lag in der Wahrheit und der einzige Verdienst im Nutzen. Aber es war auch ein Meilenstein, ein Gang auf die andere Seite. Jenseits dieses Punktes war von der Kindheit nichts mehr übrig.
»Herrgott, Tyler. Willst du vielleicht etwas Stärkeres als den Kaffee da?«
»Ich sag nicht, dass es eine große Sache war. Das ist ja das Schockierende daran. Es war keine große Sache. Du gehst da rein und hinterher ins Kino.«
»Aber ein weiter Weg vom Großen Haus.«
»Ein weiter Weg. Für uns beide.« Ich hob meine Tasse.
Dann tauschten wir Erinnerungen aus, und die Spannung in unserer Unterhaltung verflüchtigte sich. Wir sprachen von den alten Zeiten. Dabei folgten wir, wie ich bald merkte, einem bestimmten Muster. Jason erwähnte einen Ort — den Keller, die Mall, den Bach im Wäldchen —, und ich erzählte eine Geschichte dazu: Wie wir uns einmal an dem Spirituosenschrank vergangen hatten; wie wir einmal ein Rice-Mädchen namens Kelley Weens beobachtet hatten, als sie eine Packung Kondome aus der Drogerie klaute; wie Diane uns in dem einen Sommer unbedingt aus dem lyrischen Werk von Christina Rossetti vorlesen musste, atemlos, als habe sie etwas Bedeutendes entdeckt.
Der große Rasen, gab Jason vor. Die Nacht, als die Sterne verschwanden, sagte ich.
Und dann waren wir für eine Weile still.
»Sie ist immer noch dort unten?« Das war das Letzte, was ich gehört hatte, übermittelt von meiner Mutter. Diane besuchte ein College im Süden und studierte etwas, das ich mir nicht richtig hatte merken können: Urbane Geographie, Ozeanographie oder irgendeine andere abwegige Ographie.
»Ja, immer noch.« Jason rutschte auf seinem Stuhl herum. »Weißt du, Ty, bei Diane hat sich vieles verändert.«
»Na, das muss einen nicht unbedingt überraschen.«
»Sie ist mehr oder weniger verlobt. Will heiraten.«
Ich trug’s halbwegs mit Fassung. »Tja, schön für sie.« Welchen Grund hätte ich gehabt, eifersüchtig zu sein? Ich hatte keine Beziehung mehr zu Diane — hatte nie eine gehabt, jedenfalls nicht in der engeren Bedeutung des Wortes. Und ich war einmal fast selbst verlobt gewesen, in Stony Brook im zweiten Jahr, mit einer Studentin namens Candice Boone. Es hatte uns Spaß gemacht, einander »Ich liebe dich« zu sagen, bis wir dessen irgendwann überdrüssig wurden. Ich glaube, bei Candice begann der Überdruss zuerst.
Und dennoch: mehr oder weniger verlobt? Wie ging das denn?
Ich war versucht zu fragen, aber Jason fühlte sich sichtlich nicht wohl mit der Wendung, die unser Gespräch genommen hatte. Eine weitere Erinnerung stellte sich ein: Einmal, noch im Großen Haus, hatte Jason eine Freundin mit nach Hause gebracht, um sie seiner Familie vorzustellen. Er hatte sie im Schachklub von Rice kennen gelernt, ein einfaches, aber nettes Mädchen, zu schüchtern, um viel zu sagen. Carol war an jenem Abend relativ nüchtern, aber E. D. war mit dem Mädchen sichtlich nicht einverstanden, behandelte sie demonstrativ unfreundlich, und als sie gegangen war, scholt er Jason dafür, »so ein Exemplar ins Haus zu schleppen«. Mit einem großen Verstand, so E. D., sei eine entsprechende Verantwortung verbunden. Er wolle nicht, dass Jason in eine konventionelle Ehe gelockt würde, wolle nicht mit ansehen müssen, wie er »Windeln an die Wäscheleine« hänge, anstatt sich »in der Welt einen Namen zu machen«.
Die meisten an Jasons Stelle hätten wohl aufgehört, ihre Freundinnen mit nach Hause zu bringen.
Jason aber hatte einfach aufgehört, Freundinnen zu haben.
Das Haus war leer, als ich am nächsten Morgen aufwachte.
Auf dem Küchentisch lag eine Nachricht: Jason war losgefahren, um Vorräte fürs Grillen zu besorgen. Bin mittags zurück oder auch später. Jetzt war es halb zehn. Ich hatte luxuriös lange geschlafen, schon überkam mich Sommerferienträgheit.
Das Haus schien sie zu befördern. Die Stürme der letzten Nacht waren weitergezogen, eine angenehme Morgenbrise wehte durch die Kattunvorhänge, das Sonnenlicht legte Unregelmäßigkeiten in der Maserung der Arbeitsplatte in der Küche bloß. Ich frühstückte gemütlich am Fenster und beobachtete die Wolken, die wie stattliche Schoner über den Horizont segelten.
Kurz nach zehn klingelte es an der Tür, und ich bekam kurz Panik bei dem Gedanken, dass es Diane sein könnte. Hatte sie spontan beschlossen, ein bisschen früher zu kommen? Nein, es war »Mike, der Gartenmann« mit Halstuch und ärmellosem T-Shirt, der mir Bescheid geben wollte, dass er jetzt den Rasen mähen werde — er wolle niemanden aufwecken, aber der Mäher sei ziemlich laut; er könne aber auch am Nachmittag wiederkommen, falls das ein Problem sei. Überhaupt kein Problem, sagte ich, und ein paar Minuten später fuhr er die Konturen des Grundstücks mit einem uralten grünen John Deere ab, der die Luft mit brennendem Öl einfettete. Immer noch ein wenig schläfrig, fragte ich mich, wie diese Gartenarbeit sich wohl im Angesicht dessen ausnehmen würde, was Jason gerne als das »Universum im Ganzen« bezeichnete. Für das Universum im Ganzen war die Erde ein Planet kurz vor dem Stillstand. Die Grashalme dort draußen im Garten waren über Jahrhunderte gewachsen, in ihrer Bewegung ebenso majestätisch gemessen wie die Evolution der Sterne. Mike, eine vor einigen Milliarden Jahren geborene Naturgewalt, mähte sie mit unendlicher Geduld. Die abgetrennten Halme fielen, von der Schwerkraft leicht angehaucht, über viele, viele Jahre hinweg zwischen Sonne und Lehmboden, einem Boden, in dem Methusalemwürmer wühlten, während anderswo in der Galaxis womöglich ganze Reiche aufstiegen und wieder vergingen.