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Endlos lange starrten wir hin. Schließlich sagte Diane: »Was ist das, Tyler? Was geschieht da?«

Ich erzählte ihr von den chinesischen Atomsprengköpfen.

»Jason wusste, dass das passieren könnte?«, fragte sie, gab sich dann aber gleich selbst die Antwort. »Natürlich.« Das seltsame Licht verlieh dem Zimmer einen rosenfarbenen Anstrich und legte sich über ihre Wangen wie ein Fieber. »Wird es uns umbringen?«

»Jason glaubt es nicht. Es wird den Leuten allerdings eine Heidenangst einjagen.«

»Aber ist es gefährlich? Strahlung oder irgendwas?«

Ich bezweifelte es. Aber ausschließen konnte man es natürlich nicht. »Probier doch mal das Fernsehen«, sagte ich. In jedem Schlafzimmer gab es einen in die Walnusstäfelung eingelassenen Plasmabildschirm. Ich nahm an, dass jede auch nur annähernd tödliche Strahlung die Übertragung von Funkwellen verhindern würde.

Aber das Fernsehen funktionierte gut genug, um uns Nachrichtenbilder von Menschenmassen zu zeigen, die in den Städten Europas zusammenströmten (wo es bereits dunkel war, jedenfalls so dunkel, wie es in dieser Nacht werden würde). Keine tödliche Strahlung, aber jede Menge Panik. Diane saß regungslos auf der Bettkante, die Hände im Schoß gefaltet, sichtlich verängstigt. Ich setzte mich neben sie und sagte: »Wenn das wirklich irgendwie tödlich wäre, würden wir jetzt schon nicht mehr leben.«

Draußen stolperte der Sonnenuntergang der Dunkelheit entgegen. Das diffuse Leuchten löste sich in mehrere klar geschiedene Sonnen auf, alle geisterblass, und dann plötzlich in eine Spirale von Sonnenlicht, wie eine strahlende Feder, die sich über den ganzen Himmel bog und ebenso jäh wieder verschwand.

Wir saßen Hüfte an Hüfte, während der Himmel sich verdunkelte.

Dann traten die Sterne hervor.

Es gelang mir, Jason noch einmal zu erreichen, bevor Netze zusammenbrachen. Simon hatte gerade die Zündkerzen für sein Auto bezahlt, erzählte er, als der Himmel explodierte. Die Straßen aus Stockbridge heraus waren bereits verstopft, das Radio berichtete von vereinzelten Plündereien in Boston und zum Erliegen kommendem Verkehr auf allen Hauptstraßen, daher war Jason auf den Parkplatz eines Motels gefahren und hatte für die Nacht ein Zimmer für sich und Simon gemietet. Am nächsten Morgen, sagte er, werde er wahrscheinlich nach Washington müssen, aber vorher werde er Simon noch beim Haus absetzen.

Dann gab er sein Telefon an Simon weiter und ich meins an Diane. Ich verließ das Zimmer, während sie mit ihrem Verlobten sprach. Das Haus schien bedrohlich groß und leer. Ich wanderte herum und machte überall Licht an, bis sie mich rief.

»Noch einen Drink?«, fragte ich.

»O ja.«

Kurz nach Mitternacht gingen wir nach draußen.

Diane ließ sich nichts anmerken. Simon hatte sie mit New-Kingdom-Weisheiten aufgebaut. In der NK-Theologie gab es keine konventionelle Wiederkunft Christi, keine Entrückung, kein Armageddon — der Spin war all dies zusammengenommen, die indirekte Erfüllung der alten Prophezeiungen. Und wenn Gott die Leinwand des Himmels benutzt, um uns die nackte Geometrie der Zeit aufzumalen, so Simon, dann tut er das eben und all unsere Furcht — unsere Ehrfurcht — ist dem Vorgang vollkommen angemessen. Doch sollten wir uns von diesen Gefühlen nicht überwältigen lassen, denn der Spin ist letzten Endes ein Akt der Erlösung, das letzte und beste Kapitel der menschlichen Geschichte.

Oder so etwas in der Art.

Wir gingen also nach draußen, um den Himmel zu beobachten, weil Diane das für eine mutige und spirituelle Handlung hielt. Der Himmel war wolkenlos, und die Luft roch nach Kiefern. Der Highway war weit weg, doch hin und wieder hörten wir leise Autohupen und Sirenen.

Unsere Schatten tanzten um uns herum, je nachdem, welcher Teil des Himmels aufleuchtete, mal im Norden, mal im Süden. Wir saßen auf dem Rasen, einige Meter vom Schein der Verandalampen entfernt, Diane lehnte sich gegen meine Schulter, und ich legte den Arm um sie. Wir waren beide ein bisschen betrunken.

Trotz all der Jahre emotionaler Kälte, trotz unserer Vergangenheit im Großen Haus, trotz ihrer Verlobung mit Simon Townsend, trotz NK und Ekstasis und sogar trotz der atomaren Verunstaltung des Himmels war ich hochempfänglich für das Gefühl, das der Druck ihres Körpers neben mir auslöste. Und das Seltsame war, dass sich alles vollkommen vertraut anfühlte, die Rundung ihres Arms unter meiner Hand, das Gewicht ihres Kopfes an meiner Schulter, ja selbst der Geruch ihrer Furcht: nicht neu entdeckt, sondern erinnert. Sie fühlte sich genauso an, wie sie sich schon immer in meiner Vorstellung angefühlt hatte.

Der Himmel versprühte merkwürdiges Licht. Nicht das reine Licht des Spin-Universums, das uns auf der Stelle getötet hätte. Nein, es war eine Serie von Schnappschüssen des Himmels, aufeinander folgende, zu Mikrosekunden komprimierte Mitternächte, Nachbilder, die wie ein Blitzlicht verblassten; dann derselbe Himmel ein Jahrhundert oder ein Jahrtausend später, wie die Schnittfolge eines surrealen Films. Einige der Einstellungen waren verschwommene Langbelichtungen, Sternen- und Mondlicht als geisterhafte Kugelformen oder Kreise oder Krummschwerter. Andere waren gestochen scharfe, schnell verblassende Standbilder. Nach Norden hin wurden die Linien und Kreise schmaler, die Radien kleiner, während sich die Äquatorsterne ruhelos zeigten und in ihrem Tanz riesige Ellipsen beschrieben. Vollmonde, Halbmonde und abnehmende Monde blinkten in blassoranger Durchsichtigkeit von einem Horizont zum anderen. Die Milchstraße war ein weiß fluoreszierendes Band, mal heller, mal dunkler, entzündet von flackernden, sterbenden Sternen. Mit jedem Hauch der sommerlichen Luft wurden Sterne geschaffen und Sterne zerstört.

Und alles war in Bewegung.

Bewegte sich in gewaltigem Flirren und verschlungenen Tänzen, die immer größere, noch unsichtbare Kreise andeuteten. Der Himmel über uns schlug wie ein Herz.

»So lebendig«, flüsterte Diane.

Es gibt ein Vorurteil, das uns die Beschränktheit unserer Wahrnehmung aufdrängt: Dinge, die sich bewegen, sind lebendig; die es nicht tun, sind tot. Der lebendige Wurm windet sich unter dem toten, statischen Stein. Sterne und Planeten bewegen sich, jedoch nur nach den ewigen Gesetzen der Gravitation: ein Stein mag fallen, aber er ist nicht lebendig, und orbitale Bewegung ist nichts anderes als dieses Fallen, ins Unendliche verlängert.

Wird aber unsere Eintagsfliegenexistenz gedehnt — wie es die Hypothetischen bewirkt hatten —, dann verwischt sich der Unterschied. Sterne werden geboren, leben, sterben und hinterlassen ihre Asche zugunsten neuer Sterne. Die Summe ihrer Bewegungen ist keineswegs simpel, sondern unvorstellbar komplex, ein Tanz der Anziehung und Umlaufgeschwindigkeit, schön, aber furchterregend.

Furchterregend, weil die Sterne, wie ein Erdbeben, in ihrem Todeskampf das verflüssigen, was fest sein soll. Furchterregend, weil unsere tiefsten organischen Geheimnisse, unsere Paarungen, unsere chaotischen Akte der Fortpflanzung, gar keine Geheimnisse sind, wie sich herausstellt: auch die Sterne bluten und liegen in Geburtswehen. Alles fließt, nichts hat Bestand. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich das gelesen hatte.

»Heraklit«, sagte Diane.

Es war mir nicht bewusst, dass ich es laut ausgesprochen hatte.

»All die Jahre«, sagte sie, »damals im Großen Haus, all die vergeudeten Scheißjahre über wusste ich…«

Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. Ich wusste, was sie gewusst hatte.

»Ich will wieder rein«, sagte sie. »Ich will zurück ins Schlafzimmer.«