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Träumte nicht von den Seychellen, sondern von Jason. Von Jason und seiner Liebe zu Netzwerken (»nicht die technische Spielerei, sondern das Netz«), von den Netzwerken, die er geschaffen und bewohnt hatte, und davon, wo diese Netzwerke ihn hingeführt hatten.

Unruhige Nächte

Seattle, im September, fünf Jahre nach dem fehlgeschlagenen chinesischen Raketenangriff. Ein verregneter Freitag. Ich fuhr im Feierabendverkehr nach Hause. In meiner Wohnung angekommen, schaltete ich die Audioschnittstelle ein und rief eine Liste auf, die ich unter dem Titel »Therapie« zusammengestellt hatte.

Es war ein langer Tag in der Harborview-Notaufnahme gewesen. Zwei Schusswunden, ein Selbstmordversuch. An der Innenseite meiner Augenlider trieb sich noch eines der Bilder herum: Blut, das von den Rädern einer Rollbahre spritzt. Ich zog meine regenfeuchten Sachen aus, schlüpfte in Jeans und Pullover, goss mir etwas zu trinken ein und stellte mich ans Fenster, um das Flimmern der Stadt zu betrachten. Irgendwo da draußen war der lichtlose Raum des Puget Sound, von wogenden Wolken verdunkelt. Der Verkehr auf der I-5 war fast zum Stillstand gekommen, ein leuchtender roter Strom.

Mein Leben, im Wesentlichen so, wie ich es eingerichtet hatte. Und es hing ganz an einem Wort.

Dann sang Astrid Gilberto, voll Wehmut und ein bisschen falsch, über Gitarrenakkorde und Corcovado, aber ich war noch immer zu aufgedreht, um darüber nachzudenken, was Jason gestern Abend am Telefon gesagt hatte. Zu aufgedreht sogar, um die Musik so zu hören, wie es ihr angemessen war. »Corcovado«, »Desafinado«, ein paar Stücke von Gerry Mulligan, ein paar von Charlie Byrd. Therapie. Aber alles verschwamm im Geräusch des Regens. Ich schob mir etwas zu essen in die Mikrowelle und verzehrte es, ohne es zu schmecken; dann begrub ich alle Hoffnung auf karmische Gelassenheit und beschloss, an Giselles Tür zu klopfen, zu sehen, ob sie zu Hause war.

Giselle Palmer wohnte drei Türen weiter im gleichen Flur. Sie öffnete mir in zerschlissener Jeans und einem alten Flanellhemd, was dafür sprach, dass sie einen häuslichen Abend verbringen wollte. Ich fragte sie, ob sie beschäftigt sei oder ob sie vielleicht Lust habe, ein bisschen mit mir abzuhängen.

»Ich weiß nicht, Tyler. Du siehst ziemlich düster aus.«

»Es ist eher so, dass ich mich in einem Konflikt befinde. Ich denke daran, die Stadt zu verlassen.«

»Tatsächlich? So eine Art Geschäftsreise?«

»Nein, ich meine endgültig.«

»Oh?« Ihr Lächeln verflog. »Wann hast du denn das entschieden?«

»Ich hab mich noch nicht entschieden. Das ist ja der springende Punkt.«

Sie machte die Tür weiter auf und winkte mich hinein. »Im Ernst? Wo willst du denn hin?«

»Lange Geschichte.«

»Soll heißen, du brauchst erst einen Drink, bevor du darüber reden kannst?«

»So ungefähr.«

Giselle hatte sich mir letztes Jahr bei einer Mieterversammlung im Keller des Hauses vorgestellt. Sie war vierundzwanzig und reichte mir ungefähr bis zum Schlüsselbein. Sie arbeitete in einem Restaurant in Renton, doch als wir anfingen, uns sonntagnachmittags zum Kaffee zu treffen, erzählte sie mir, sie sei »eine Nutte, eine Prostituierte. Das ist mein Nebenjob.«

Gemeint war damit, dass sie einem lockeren Kreis von Freundinnen angehörte, in dem die Namen älterer (gesellschaftsfähiger, in der Regel verheirateter) Männer zirkulierten, Männer, die bereit waren, gutes Geld für Sex zu zahlen, aber einen Horror vor dem Straßenstrich hatten. Als sie mir das erzählte, hatte sie ihre Schultern gestrafft und sah mich herausfordernd an, für den Fall, dass ich schockiert oder abgestoßen wäre. War ich aber nicht. Wir lebten schließlich in Spin-Zeiten. Leute in Giselles Alter schufen sich ihre eigenen Regeln, ungeachtet möglicher Folgen, und Leute wie ich enthielten sich eines Urteils.

Wir tranken weiterhin zusammen Kaffee und gingen auch manchmal zum Essen, und einige Male schrieb ich ihr eine Überweisung, die sie für ihre Blutuntersuchungen brauchte. Ihrem letzten Test zufolge war Giselle HIV-negativ, und die einzige übertragbare Krankheit, gegen die sie Antikörper entwickelt hatte, war der Westnilvirus. Mit anderen Worten: sie war vorsichtig gewesen und hatte Glück gehabt.

Nun war es, berichtete Giselle, mit dem gewerblichen Sex allerdings so, dass er, selbst wenn er wie in ihrem Fall auf Amateurniveau betrieben wurde, das eigene Leben immer mehr prägte und vereinnahmte. Zusehends, sagte sie, werde man zu jemandem, der Kondome und Viagra mit sich herumträgt. Aber warum tat sie es dann, wenn sie doch auch, nur so als Beispiel, einen Nachtschichtjob bei Wal-Mart antreten konnte? Das war eine Frage, die ihr nicht gefiel, die sie defensiv beantwortete: »Vielleicht ist es ein Tick. Oder vielleicht auch ein Hobby, nicht wahr, so wie Modelleisenbahnen.« Ich wusste jedoch, dass sie vor Jahren in Saskatoon vor einem Stiefvater davongelaufen war, der sie missbraucht hatte, und es war nicht schwer, daraus Schlüsse zu ziehen. Und natürlich hatte sie dieselbe Entschuldigung für riskantes Verhalten, wie wir sie alle, die wir in einem bestimmten Alter waren, hatten: die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit unserer aller Auslöschung. Sterblichkeit übertrumpft die Moral, so hatte es ein Schriftsteller meiner Generation einmal ausgedrückt.

»Nun denn«, sagte sie jetzt, »wie betrunken soll es denn sein? Nur angeschickert oder sternhagelvoll? Vielleicht musst du’s aber auch nehmen, wie’s kommt. Die Bar ist im Moment etwas dünn bestückt.«

Sie mixte mir etwas, das hauptsächlich aus Wodka bestand und schmeckte, als sei es aus einem Benzintank gepumpt worden. Ich nahm die heutige Zeitung von einem Stuhl und setzte mich. Giselles Wohnung war recht anständig eingerichtet, aber mit dem Saubermachen hielt sie es nicht besser als ein College-Frischling im Studentenwohnheim. Bei der Zeitung war die Kommmentar- und Meinungsseite aufgeschlagen. Der Cartoon handelte vom Spin: die Hypothetischen waren als ein paar schwarze Spinnen gezeichnet, die die Erde mit ihren haarigen Beinen umklammerten. Der Text dazu: FRESSEN WIR SIE GLEICH ODER WARTEN WIR BIS ZUR WAHL?

»Das kapier ich überhaupt nicht«, sagte Giselle, ließ sich aufs Sofa nieder und deutete mit einem Fuß auf die Zeitung.

»Den Cartoon?«

»Die ganze Geschichte. Den Spin. ›Kein Zurück‹. Wenn ich die Zeitung lese, frag ich mich immer nur, äh… was ist los? Da ist irgendetwas auf der anderen Seite des Himmels und es ist uns nicht freundlich gesinnt. Das ist eigentlich alles, was ich weiß.«

Vermutlich hätte die Mehrheit der Menschheit diese Erklärung unterschreiben können, aber aus irgendeinem Grund — vielleicht war es der Regen, vielleicht das Blut, das heute in der Notaufnahme geflossen war — reagierte ich etwas ungehalten darauf. »So schwer ist es nicht zu verstehen.«

»Nein? Okay, warum passiert es also?«

»Um das Warum geht es nicht. Niemand weiß über das Warum Bescheid. Was aber das Was angeht…«

»Nein, ich weiß. Du brauchst mir keinen Vortrag zu halten. Wir stecken in einer Art kosmischem Sack, und das Universum gerät ins Trudeln, und so weiter und so fort.«

Was mich erneut reizte. »Du kennst doch deine eigene Adresse, oder?«

Sie nahm einen Schluck. »Natürlich.«