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»Weil du nämlich gerne weißt, wo du bist. Ein paar Kilometer vom Meer entfernt, ein paar hundert Kilometer von der Grenze, ein paar tausend Kilometer westlich von New York, stimmt’s?«

»Stimmt, na und?«

»Was ich damit sagen wilclass="underline" die Leute können problemlos zwischen Spokane und Paris unterscheiden, aber wenn’s um den Himmel geht, sehen sie nichts als einen großen, amorphen, rätselhaften Klecks. Wie kommt das?«

»Ich weiß nicht. Weil ich mein ganzes Wissen über Astronomie aus Star Trek bezogen habe? Ich meine, wie viel muss ich denn wirklich über den Mond und die Sterne wissen? Dinge, die ich nicht mehr gesehen habe, seit ich ein kleines Kind war. Sogar die Wissenschaftler geben zu, dass sie die Hälfte der Zeit gar nicht wissen, wovon sie reden.«

»Und das findest du in Ordnung?«

»Was für ne Scheißrolle spielt es denn, was ich finde? Hör zu, vielleicht sollte ich den Fernseher anmachen. Wir können uns einen Film angucken, und du erzählst mir, warum du die Stadt verlassen willst.«

Sterne sind wie Menschen, sagte ich ihr. Sie leben und sterben in voraussagbaren Zeiträumen. Die Sonne altert rapide und je weiter das Altern voranschreitet, desto schneller verbraucht sie ihren Brennstoff, ihre Leuchtkraft nimmt alle Milliarden Jahre um zehn Prozent zu. Das Sonnensystem hat sich bereits so sehr verändert, dass die Erde unbewohnbar wäre, wenn der Spin von einem Tag auf den anderen aufhören würde. Kein Zurück mehr. »Das ist es, wovon in den Zeitungen die Rede ist. Es wäre gar nicht in den Nachrichten gewesen, wenn nicht Präsident Clayton in einer Rede offiziell zugegeben hätte, dass es nach Meinung der führenden Wissenschaftler keine Rückkehr zum Status quo ante geben könne.«

Worauf sie mich etwas unglücklich anstarrte »Dieser ganze Quatsch…«

»Es ist kein Quatsch.«

»Kann sein, aber es bringt mir nichts.«

»Ich wollte nur erklären…«

»Scheiße, Tyler. Hab ich dich um eine Erklärung gebeten? Nimm deine Albträume und geh nach Hause. Oder gib Ruhe und erzähl mir, warum du aus Seattle wegwillst. Es hat mit deinen Freunden zu tun, nicht wahr?«

Ich hatte ihr von Jason und Diane erzählt. »Hauptsächlich mit Jason.«

»Das sogenannte Genie.«

»Nicht nur sogenannt. Er ist in Florida…«

»Macht da irgendwas für die Satellitenleute, hattest du erzählt, oder?«

»Verwandelt den Mars in einen Garten.«

»Das stand auch in der Zeitung. Ist das wirklich möglich?«

»Ich habe keine Ahnung. Jason scheint es zu glauben.«

»Aber würde es nicht ewig lange dauern?«

»Ab einer bestimmten Höhe geht die Uhr schneller.«

»Aha. Und wofür braucht er dich?«

Tja, wofür? Gute Frage. Ausgezeichnete Frage. »Perihelion will einen Arzt für die interne Ambulanz einstellen.«

»Ich dachte, du wärst nur ein gewöhnlicher praktischer Arzt.«

»Bin ich auch.«

»Was qualifiziert dich dann dafür, ein Astronautendoktor zu werden?«

»Absolut nichts. Aber Jason…«

»Tut einem alten Kumpel einen Gefallen? Tja, hätte man sich denken können. Gott segne die Reichen, hm? Bleibt alles im Freundeskreis.«

Ich zuckte mit den Achseln. Sollte sie es ruhig glauben. Nicht nötig, Giselle einzuweihen, und außerdem hatte Jason ohnehin nichts Genaueres gesagt… Aber bei unserem Gespräch hatte ich den Eindruck gewonnen, dass er mich nicht nur als Betriebsdoktor haben wollte, sondern auch als seinen Leibarzt. Denn er hatte ein gesundheitliches Problem. Ein Problem, das er dem Perihelion-Personal nicht anvertrauen wollte, über das er am Telefon nicht reden wollte.

Giselle war zwar der Wodka ausgegangen, aber nachdem sie ein wenig in ihrer Handtasche gewühlt hatte, brachte sie einen in einer Tamponschachtel versteckten Joint zum Vorschein. »Wird gut bezahlt, möchte ich wetten.« Sie knipste ein Plastikfeuerzeug an, hielt die Flamme an die eingedrehte Spitze des Joints und nahm einen tiefen Zug.

»Wir haben noch keine Details besprochen.«

Sie stieß den Rauch aus. »Irgendwie nicht normal. Vielleicht hältst du es deswegen aus, die ganze Zeit an den Spin zu denken. Tyler Dupree, Autismuskandidat. Das bist du nämlich, weißt du. Alle Anzeichen sind da. Ich wette, dieser Jason Lawton ist genauso. Ich wette, er kriegt jedes Mal einen Steifen, wenn er das Wort ›Milliarde‹ ausspricht.«

»Unterschätz ihn nicht. Er könnte tatsächlich dazu beitragen, die menschliche Rasse zu erhalten.« Wenn auch nicht jedes einzelne Exemplar.

»Also, wenn das kein Streberprojekt ist. Und seine Schwester, die, mit der du geschlafen hast…«

»Einmal.«

»Einmal. Die ist religiös geworden, stimmt’s?«

»Stimmt.« War es wohl auch immer noch, soweit mir bekannt war. Seit jener Nacht in den Berkshires hatte ich nichts mehr von Diane gehört. Nicht, dass ich mich nicht darum bemüht hätte. Mehrere E-Mails waren allerdings unbeantwortet geblieben. Auch Jason hörte nicht viel von ihr, aber Carol zufolge lebte sie mit Simon irgendwo in Utah oder Arizona, einem Staat im Südwesten jedenfalls, den ich nie besucht hatte und von dem ich keine Vorstellungen besaß. Dorthin hatte es sie nach dem Zerfall der New-Kingdom-Bewegung verschlagen.

»Das ist auch nicht so schwer zu verstehen.« Giselle reichte mir den Joint. So richtig wohl war mir nicht, was das Kiffen anging, aber Giselles Bemerkungen über Autismus und Strebertum hatten vielleicht doch einen wunden Punkt getroffen. Ich nahm einen ausführlichen Zug, und die Wirkung war genau die gleiche wie beim letzten Mal in Stony Brook: augenblickliche Aphasie. »Es muss furchtbar für sie gewesen sein. Als das mit dem Spin passiert war, wollte sie nichts anderes, als nicht daran denken zu müssen, was aber das Letzte war, was du und ihre Familie zugelassen hätten. Ich wäre an ihrer Stelle auch religiös geworden. Im Scheißchor würde ich singen.«

Ich sagte (mit säuselnder Verzögerung): »Ist es wirklich so schwer, der Welt ins Auge zu blicken?«

Giselle streckte die Hand aus und nahm den Joint zurück. »Von meinem Standpunkt aus schon. Im Großen und Ganzen.« Sie wandte zerstreut den Kopf. Wind rüttelte am Fenster, als ärgerte er sich über die trockene Wärme in der Wohnung. Unangenehmes Wetter näherte sich vom Sund her. »Ich wette, das wird wieder einer von diesen Wintern. So ein richtig fieser. Ich wünschte, ich hätte hier einen Kamin. Musik könnte auch nichts schaden. Aber ich bin zu müde, um aufzustehen.«

Ich ging zu ihrer Musikanlage, rief den Download eines Stan-Getz-Albums auf, und schon bald erwärmte das Saxophon die Wohnung auf eine Weise, wie kein Kamin der Welt es vermocht hätte.

Sie nickte beifällig. Nicht unbedingt das, was sie selbst ausgewählt hätte, aber — ja doch, okay. »Er hat dich also angerufen und dir diesen Job angeboten.«

»Jawohl.«

»Und du hast ihm gesagt, dass du ihn annimmst?«

»Ich hab ihm gesagt, dass ich darüber nachdenke.«

»Und das tust du jetzt? Darüber nachdenken?«

Sie schien damit irgendetwas andeuten zu wollen, aber ich wusste nicht, was. »Ja, ich glaube schon.«

»Ich glaube, eher nicht. Ich glaube, du weißt schon, was du tun wirst. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist hier, um dich zu verabschieden.«

Ich sagte ihr, das sei wohl möglich.

»Dann komm wenigstens rüber und setz dich neben mich.«

Ich ging schwerfällig zum Sofa. Giselle streckte sich aus und legte ihre Füße auf meinen Schoß. Sie trug Männersocken, flauschige Argyles, was ein wenig albern aussah. Die Aufschläge ihrer Jeans rutschten über die Knöchel. »Für jemanden, der sich Schusswunden ansehen kann, ohne mit den Wimpern zu zucken, hast du es ziemlich gut drauf, allen Spiegeln aus dem Weg zu gehen.«

»Was soll das denn heißen?«

»Soll heißen, dass du offensichtlich noch nicht fertig bist mit Jason und Diane. Vor allem nicht mit ihr.«