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Sie rief um zehn vor fünf wieder an, als ich, gegen meine Absicht und noch vollständig angezogen, gerade dabei war einzuschlafen. Ich fummelte das Telefon aus meiner Hemdtasche. »Hallo?«

»Ich bin’s nur. Es ist immer noch dunkel, Tyler.«

Ich blickte zum Fenster, ja, dunkel. Dann zum Wecker. »Noch nicht ganz Sonnenaufgangszeit, Diane.«

»Hast du geschlafen?«

»Nein.«

»Ja, hast du. Du Glücklicher. Es ist immer noch dunkel. Und kalt. Ich hab aufs Thermometer vor dem Küchenfenster geguckt. Knapp über null. Ist das normal, dass es so kalt ist?«

»Gestern Morgen war es genauso kalt. Ist sonst noch jemand wach bei euch?«

»Jason hat sich mit dem Radio in seinem Zimmer eingeschlossen. Meine Eltern schlafen wohl und, äh, erholen sich von der Party. Ist deine Mutter wach?«

»Nicht um diese Zeit. Nicht am Wochenende.« Ich warf einen nervösen Blick zum Fenster. Inzwischen musste doch irgendein Stück Helligkeit am Himmel zu sehen sein. Selbst eine bloße Andeutung von Tageslicht hätte erheblich zur Beruhigung beigetragen.

»Du hast sie nicht geweckt?«

»Was soll sie denn tun, Diane? Machen, dass die Sterne zurückkehren?«

»Wohl nicht.« Sie machte eine Pause. »Tyler«, sagte sie dann.

»Ich bin noch da.«

»Was ist deine erste Erinnerung?«

»Wie meinst du — heute?«

»Nein. Das Erste, woran du dich in deinem Leben erinnerst. Ich weiß, es ist eine blöde Frage, aber ich glaube, mir würde es besser gehen, wenn wir einfach fünf oder zehn Minuten über was anderes reden könnten als über den Himmel.«

»Meine erste Erinnerung?« Ich dachte nach. »Das müsste in L.A. gewesen sein, bevor wir nach Osten gezogen sind.« Als mein Vater noch lebte und für E. D. Lawton in ihrer gemeinsamen Startup-Firma in Sacramento arbeitete. »Wir hatten so eine Wohnung mit langen weißen Vorhängen im Schlafzimmer. Das Erste, woran ich mich richtig erinnern kann, ist, wie sich diese Vorhänge im Wind bauschten. Es war ein sonniger Tag, das Fenster war offen, und es war ein bisschen windig.« Die Erinnerung wurde von einem unerwartet wehmütigen Gefühl begleitet, wie ein letzter Blick auf eine entschwindende Küste. »Wie sieht’s bei dir aus?«

Dianes erste Erinnerung spielte ebenfalls in Sacramento, allerdings auf vollkommen andere Weise. E. D. hatte seine beiden Kinder mit in die Fabrik genommen und gab ihnen eine Führung, wollte offenbar schon damals Jason auf seine Rolle als Erbe vorbereiten. Diane war fasziniert von den riesigen perforierten Sparren, den Spulen mit mikrodünnen Aluminiumfasern, dem unablässigen Lärm. Alles war so groß, dass sie fest glaubte, irgendwo einen Märchenriesen zu finden, an die Wand gekettet, ein Gefangener ihres Vaters.

Es war keine schöne Erinnerung. Sie sagte, sie habe sich als fünftes Rad am Wagen gefühlt, verlassen, ausgesetzt inmitten einer riesigen, furchterregenden Maschinerie.

Wir sprachen noch eine Weile darüber. Dann sagte Diane: »Sieh dir den Himmel an.«

Ich blickte zum Fenster. Über den westlichen Horizont tropfte gerade genug Licht, um die Schwärze in ein tintenfarbenes Blau zu verwandeln.

Ich verbarg meine Erleichterung.

»Na, da hast du wohl Recht gehabt«, sagte sie, plötzlich ganz vergnügt. »Die Sonne geht doch noch auf.«

Natürlich war es gar nicht die Sonne. Es war eine Hochstaplersonne, eine clevere Fälschung. Aber das wussten wir damals noch nicht.

In kochendem Wasser erwachsen werden

Von jüngeren Leuten werde ich oft gefragt: Warum seid ihr nicht in Panik verfallen? Warum ist niemand in Panik verfallen? Warum gab es keine Plünderungen, keine Aufstände? Warum hat eure Generation klein beigegeben, warum seid ihr in den Spin hineingeglitten, ohne auch nur den leistesten Protest zu erheben?

Manchmal sage ich: Aber es sind doch schreckliche Dinge passiert.

Manchmal sage ich: Wir haben ja nicht begriffen, was los war. Und was hätten wir daran auch ändern können?

Und manchmal gebe ich das Gleichnis vom Frosch zum Besten. Wenn du einen Frosch in kochendes Wasser wirfst, hüpft er wieder heraus. Wirfst du den Frosch aber in einen Topf mit angenehm warmem Wasser, das du langsam immer weiter erhitzt, dann ist der Frosch tot, bevor er begriffen hat, dass man ihm an den Kragen will.

Die Auslöschung der Sterne geschah zwar nicht allmählich und unauffällig, doch für die meisten von uns hatte sie zunächst keine katastrophalen Auswirkungen. Als Astronom oder Verteidigungspolitiker, oder als Beschäftigter in der Telekommunikations- beziehungsweise Raumfahrtbranche hat man die ersten Tage des Spins vermutlich in einem Zustand äußerster Erregung verbracht — für den Busfahrer oder den Angestellten in einem Burger-Restaurant aber war das alles mehr oder weniger warmes Wasser.

Die englischsprachigen Medien bezeichneten es als den »October Event« — das »Oktober-Ereignis« (»Spin« hieß es erst ein paar Jahre später), und seine erste und offensichtliche Wirkung war die vollständige Vernichtung der Milliarden Dollar schweren Weltraumsatelliten-Industrie. Der Verlust der Satelliten bedeutete das Ende des Satellitenfernsehens, das Ende der Direktübertragungen per Satellit; er machte das gesamte Fernsprechsystem unberechen- und GPS-Lokalisierer unbrauchbar; er kappte das World Wide Net, ließ den Großteil der avanciertesten Rüstungstechnologie auf einen Schlag veralten, beschnitt die Möglichkeiten globaler Überwachung und Aufklärung und zwang die Wetteransager, Isobare auf Landkarten zu zeichnen, anstatt geschmeidig durch die von Wettersatelliten gelieferten CGI-Bilder zu gleiten. Wiederholte Versuche, Kontakt mit der Internationalen Raumstation aufzunehmen, waren erfolglos. In Canaveral (wie in Baikonur und Kourou) angesetzte kommerzielle Raketenstarts wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

Es bedeutete, auf lange Sicht, eine ungute Entwicklung für GE Americom, AT&T, COMSAT und Hughes Communications, um nur einige zu nennen.

Und tatsächlich ereignete sich viel Schreckliches in der Folge jener Nacht, wenn auch das meiste im Blackout der Medien unterging. Nachrichten verbreiteten sich wie Geflüster, zwängten sich durch transatlantische Fiberoptikkabel, anstatt durch den Weltraum zu hüpfen: es dauerte fast eine Woche, bis wir erfuhren, dass ein pakistanischer Hatf-V-Flugkörper mit nuklearem Sprengkopf, versehentlich oder auf Grund von Fehlberechnungen abgeschossen in den verwirrenden ersten Augenblicken des Ereignisses, vom Kurs abgekommen war und ein landwirtschaftlich genutztes Tal im Hindukusch ausgelöscht hatte. Es war der erste in einem Krieg gezündete atomare Sprengkörper seit 1945, und so tragisch dieser Vorfall war, konnten wir angesichts der vom Verlust der Telekommunikation verursachten globalen Paranoia froh sein, dass so etwas nur einmal passierte. Einigen Berichten zufolge standen wir damals kurz davor, Teheran, Tel Aviv und Pjöngjang zu verlieren.

Vom Sonnenaufgang beschwichtigt, schlief ich bis mittags durch. Nachdem ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, fand ich meine Mutter, noch in ihrem gesteppten Morgenmantel, im Wohnzimmer, wie sie mit gerunzelter Stirn auf den Fernseher starrte. Ich fragte sie, ob sie schon gefrühstückt hätte, und sie verneinte. Also bereitete ich uns beiden etwas zum Mittagessen.

Sie wird in jenem Herbst fünfundvierzig Jahre alt gewesen sein. Hätte man von mir verlangt, sie mit einem Wort zu beschreiben, dann hätte ich vielleicht »ausgeglichen« gesagt. Sie war kaum einmal wütend, und das einzige Mal in meinem Leben, wo ich sie habe weinen sehen, war in der Nacht, als die Polizei bei uns klingelte (das war noch in Sacramento) und ihr mitteilte, dass mein Vater in der Nähe von Vacaville tödlich verunglückt war, auf der Heimfahrt von einer Geschäftsreise. Sie hat, glaube ich, großen Wert darauf gelegt, mir nur diesen Aspekt ihres Wesens zu zeigen. Es gab durchaus noch andere. Im Wohnzimmer stand ein gerahmtes Foto, Jahre vor meiner Geburt aufgenommen, das eine Frau zeigte, die so schön und furchtlos vor der Kamera stand, dass ich völlig von den Socken war, als sie mir sagte, es sei ein Porträt von ihr.