Offensichtlich gefiel ihr nicht, was sie da im Fernsehen sah. Ein Lokalsender brachte Nachrichten nonstop, wiederholte von Kurzwellenradio und Amateurfunkern übermittelte Berichte und Geschichten sowie leicht verzerrte Ruhe-bewahren-Appelle seitens der Regierung. »Tyler.« Sie forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. »Letzte Nacht ist etwas passiert. Es ist schwer zu erklären…«
»Ich weiß. Ich hab davon gehört, bevor ich schlafen gegangen bin.«
»Du wusstest davon? Und hast mich nicht geweckt?«
»Ich war mir nicht sicher…«
Aber ihre Verärgerung wich so schnell, wie sie gekommen war. »Ist schon gut, Ty. Vermutlich hab ich nichts verpasst. Es ist komisch… mir ist, als würde ich immer noch schlafen.«
»Es sind nur die Sterne«, sagte ich, vollkommen idiotisch.
»Die Sterne und der Mond«, korrigierte sie mich. »Hast du das mit dem Mond nicht gehört? Niemand kann mehr die Sterne und den Mond sehen.«
Das mit dem Mond war natürlich ein wichtiger Hinweis.
Ich blieb eine Weile bei meiner Mutter sitzen, gebannt auf den Fernseher starrend, dann stand ich auf (»Komm diesmal nach Hause, bevor es dunkel wird«, sagte sie mit ernster Miene) und ging zum Großen Haus hinüber. Ich klopfte an der Hintertür, der, die sonst Koch und Maid benutzten, wenn auch die Lawtons peinlich darauf bedacht waren, niemals von einem »Dienstboteneingang« zu sprechen. Es war auch die Tür, durch die meine Mutter an den Wochentagen das Haus betrat, um den Haushalt der Lawtons zu führen.
Mrs. Lawton ließ mich herein, sah mich ausdruckslos an, winkte mich nach oben. Diane schlief noch, ihre Zimmertür war geschlossen. Jason hatte gar nicht geschlafen und anscheinend auch nicht die Absicht, es zu tun. Ich fand ihn in seinem Zimmer, vor dem Radio.
Jasons Zimmer war eine Aladinsche Höhle voll luxuriöser Gerätschaften, dergleichen ich selber heiß begehrte, ohne doch die Hoffnung zu haben, sie jemals zu besitzen: der Computer mit einer ultraschnellen ISP-Verbindung zum Beispiel, oder der Fernseher, zwar aus zweiter Hand, aber doppelt so groß wie der, der unser Wohnzimmer schmückte.
Nur für den Fall, dass er es noch nicht gehört hatte, informierte ich ihn: »Der Mond ist verschwunden.«
»Interessant, nicht wahr?« Jason stand auf, streckte sich, fuhr sich mit den Fingern durch das ungekämmte Haar. Er hatte sich seit gestern Abend nicht umgezogen, was von einer für ihn ganz untypischen Geistesabwesenheit zeugte. Obwohl erwiesenermaßen ein Genie, hatte Jason sich in meiner Gegenwart noch nie wie ein solches benommen — will sagen, er benahm sich nicht wie die Genies, die ich aus dem Kino kannte: Er blinzelte nicht ständig, stotterte nicht, schrieb keine algebraischen Gleichungen an die Wände. Jetzt jedoch wirkte er mächtig zerstreut. »Der Mond ist natürlich nicht verschwunden — wie könnte er auch? Dem Radio zufolge werden die üblichen Gezeiten an der Atlantikküste gemessen. Also ist der Mond noch da. Und wenn der Mond noch da ist, dann sind es auch die Sterne.«
»Aber warum können wir sie dann nicht sehen?«
Er warf mir einen verärgerten Blick zu. »Woher soll ich das wissen? Ich sage nichts weiter, als dass es wenigstens teilweise ein optisches Phänomen ist.«
»Sieh mal aus dem Fenster, Jase. Die Sonne scheint. Was soll das für ein optischer Trick sein, der die Sonnenstrahlen durchlasse aber die Sterne und den Mond verschluckt?«
»Noch einmal, wie soll ich das wissen? Aber was ist die Alternative, Tyler? Jemand hat Mond und Sterne in einen großen Sack gesteckt und ist damit weggelaufen?«
Nein, dachte ich. Es war die Erde, die im Sack steckte, aus irgendeinem Grund, den nicht einmal Jason erraten konnte.
»Trotzdem ein guter Hinweis«, sagte er, »das mit der Sonne. Keine optische Barriere, sondern ein optischer Filter. Interessant.«
»Und wer hat ihn dort hingetan?«
»Woher soll ich…« Er schüttelte gereizt den Kopf. »Deine Schlussfolgerungen gehen zu weit. Wer sagt, dass irgendjemand ihn dort hingetan hat? Es könnte ein Naturereignis sein, das einmal in einer Milliarde Jahren vorkommt, wie dass sich die Magnetpole umkehren. Es ist ein ziemlich großer Sprung zu der Annahme, dass irgendeine steuernde Intelligenz dahinter steckt.«
»Es könnte aber der Fall sein.«
»Vieles könnte der Fall sein.«
Angesichts des Spottes, den ich für meine Science-Fiction-Vorliebe hatte einstecken müssen, vermied ich es, das Wort »Außerirdische« auszusprechen. Aber natürlich war es genau das, woran ich als Erstes denken musste. Ich und auch viele andere Leute. Und selbst Jason musste zugeben, dass die Möglichkeit, außerirdische Wesen wären hier am Wirken, nicht völlig an den Haaren herbeigezogen war.
»Trotzdem«, sagte ich, »muss man sich fragen, warum sie so was tun würden.«
»Es gibt nur zwei stichhaltige Gründe. Um etwas vor uns zu verstecken. Oder um uns vor etwas anderem zu verstecken.«
»Was sagt denn dein Vater dazu?«
»Ich habe ihn nicht gefragt. Er hängt den ganzen Tag am Telefon. Versucht wahrscheinlich, so schnell wie möglich eine Verkaufsorder für seine GTE-Aktien zu platzieren.« Das war offenbar ein Witz. Ich wusste nicht genau, wovon er redete, aber es war für mich der erste Hinweis darauf, was der verlorene Zugang zum Weltraum für die Luft- und Raumfahrtindustrie im Allgemeinen und für die Familie Lawton im Besonderen bedeutete. »Ich hab letzte Nacht nicht geschlafen. Hab Angst gehabt, ich könnte was verpassen. Manchmal beneide ich meine Schwester. Weck mich, wenn jemand die Sache aufgeklärt hat.«
Ich begehrte sofort auf gegen diese, wie ich fand, abschätzige Bemerkung über Diane. »Sie hat auch nicht geschlafen.«
»Ach? Tatsächlich? Und woher willst du das wissen?«
Ertappt. »Wir haben ein bisschen am Telefon geredet…«
»Sie hat dich angerufen?«
»Ja, kurz vor Sonnenaufgang.«
»Herrgott, Tyler, du wirst ja ganz rot.«
»Gar nicht wahr.«
»O doch.«
Ein schroffes Klopfen an der Tür erlöste mich: E. D. Lawton, der aussah, als habe er auch nicht viel Schlaf gekriegt.
Jasons Vater war eine einschüchternde Erscheinung. Er war groß, breitschultrig, schwer zufrieden zu stellen, leicht zu verärgern. An den Wochenenden fegte er durch das Haus wie eine Sturmfront, Blitz und Donner verbreitend. (Meine Mutter hatte einmal gesagt: »E. D. gehört nicht zu den Personen, deren Aufmerksamkeit man zu erregen wünscht. Ich habe nie verstanden, warum Carol ihn geheiratet hat.«) Er war nicht gerade der klassische Selfmade-Geschäftsmann — sein Großvater, Gründer einer sagenhaft erfolgreichen Anwaltskanzlei in San Francisco, hatte die meisten von E. D.s frühen Projekten vorfinanziert —, aber es war ihm gelungen, sich ein lukratives Geschäft mit Höheninstrumenten und Leichter-als-Luft-Technologie aufzubauen, und das alles auf die harte Tour, ohne direkte Beziehungen zur Industrie, jedenfalls am Anfang.
Er betrat Jasons Zimmer mit mürrischem Gesicht, sah mich kurz an, seine Augen blitzten. »Tut mir Leid, Tyler, aber du wirst jetzt nach Hause gehen müssen. Ich habe einiges mit Jason zu besprechen.«
Jase protestierte nicht, und ich war meinerseits nicht übermäßig scharf darauf zu bleiben. Also schlüpfte ich in meine Stoffjacke und verschwand durch die Hintertür nach draußen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich am Bach, warf Steine und beobachtete die Eichhörnchen, wie sie für den nahenden Winter vorsorgten.