Eines der erstaunlichen Dinge an Jason war, dass er tatsächlich oft über wirklich bedeutende Informationen verfügte, die dann erst ein oder zwei Tage später in den Nachrichten auftauchten. In gewisser Weise war die Rice Academy nur seine Tagesschule, seine eigentliche Ausbildung fand unter Anleitung seines Vaters statt, und E. D. wollte ihm von Anfang an ein Verständnis dafür vermitteln, wie Geschäft, Wissenschaft und Technologie sich mit politischer Macht überschneiden. E. D. hatte sich die entsprechenden Erkenntnisse höchstselbst zunutze gemacht: Der Verlust der Telekommunikationssatelliten hatte einen riesigen neuen, sowohl zivilen als auch militärischen Markt für die Höhenballons (»Aerostaten«) eröffnet, die seine Firma herstellte. Eine Nischentechnologie wurde zum Renner, und E. D. war ganz vorn mit dabei. Und manchmal vertraute er seinem vierzehnjährigen Sohn Geheimnisse an, die er einem Konkurrenten nicht im Traum verraten würde.
E. D. wusste natürlich nicht, dass Jason diese Geheimnisse gelegentlich an mich weitergab. Ich behielt sie allerdings aufs Gewissenhafteste für mich. (Wem hätte ich sie auch schon verraten können? Ich hatte sonst keine richtigen Freunde; wir lebten in einer Gegend, in der soziale Unterschiede haarscharf wahrgenommen und bewertet wurden, und ernste, lerneifrige Söhne von alleinerziehenden, berufstätigen Müttern standen in der Popularitätstabelle nicht sehr weit oben.)
Jason flüsterte jetzt fast. »Du hast von den drei russischen Kosmonauten gehört? Die im letzten Oktober gerade im Weltraum waren?«
In der Nacht des Ereignisses verschwunden und für tot erklärt. Ich nickte.
»Einer von ihnen lebt. Lebt und ist wieder in Moskau. Die Russen sagen nicht viel. Aber es geht das Gerücht, dass er komplett verrückt geworden ist.«
Ich starrte ihn mit großen Augen an, doch mehr wollte er nicht herausrücken.
Es dauerte zwölf Monate, bis die Wahrheit ans Licht kam, und als sie endlich öffentlich gemacht wurde (als Fußnote in einer europäischen Geschichte der frühen Spin-Jahre), musste ich an den Tag in der Mall denken.
Folgendes war geschehen: Drei russische Kosmonauten hatten sich, von einem Aufräumeinsatz in der moribunden Internationalen Raumstation zurückkehrend, in der Nacht des Oktober-Ereignisses in der Erdumlaufbahn befunden. Kurz nach Mitternacht Ostküstenzeit stellte der Einsatzkommandant, ein gewisser Oberst Leonid Glawin, fest, dass der Funkkontakt zur Bodenstation abgerissen war. Er unternahm wiederholte, stets erfolglose Versuche, ihn wiederherzustellen. So beunruhigend das für die Kosmonauten schon gewesen sein muss, es wurde alles sehr schnell noch schlimmer: Als die Sojus von der Nachtseite des Planeten in den Sonnenaufgang flog, schien es, als sei der Planet, den sie umkreiste, durch eine lichtlose schwarze Kugel ersetzt worden. Oberst Glawin sollte es später auf genau diese Weise beschreiben: als eine Schwärze, eine Abwesenheit, sichtbar nur, wenn sie vor die Sonne trat, eine permanente Eklipse. Der schnelle Zyklus von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bot den einzig überzeugenden Anhaltspunkt dafür, dass die Erde überhaupt noch existierte. Abrupt erschien das Sonnenlicht hinter dem Umriss der Scheibe, keinerlei Reflexion in die Dunkelheit darunter werfend, und verschwand ebenso plötzlich, sobald die Raumkapsel wieder in die Nacht glitt.
Das Entsetzen der Kosmonauten muss unvorstellbar gewesen sein.
Nachdem sie eine Woche lang um die leere Dunkelheit gekreist waren, entschlossen sie sich, lieber einen Wiedereintritt ohne Beistand der Bodenstation zu versuchen, als weiter im Weltraum zu bleiben oder an die leere Raumstation anzudocken; lieber auf der Erde — oder dem, was aus der Erde geworden war — sterben, als in der völligen Einsamkeit des Alls zu verhungern. Ohne Anleitung vom Boden und ohne visuelle Orientierungspunkte waren sie jedoch gezwungen, sich auf Berechnungen zu stützen, die sie von ihrer letzten bekannten Position aus extrapolierten. So trat die Sojus-Kapsel in einem gefährlich steilen Winkel in die Atmosphäre ein, wurde von extremen Fliehkräften geschüttelt und verlor während des Abstiegs einen unverzichtbaren Fallschirm.
Die Kapsel schlug auf einem bewaldeten Hang im Ruhrtal auf. Wassily Golubjew wurde sofort getötet, Walentina Kirchoff erlitt eine schwere Kopfverletzung und starb nach wenigen Stunden. Der benommene Oberst Glawin, der lediglich ein gebrochenes Handgelenk und geringfügige Abschürfungen zu beklagen hatte, schaffte es, das Raumfahrzeug zu verlassen und wurde schließlich von einer deutschen Rettungsmannschaft aufgefunden und den Russen übergeben.
Nach wiederholten Befragungen kam man zu dem Schluss, dass Glawin in der Folge seines Martyriums den Verstand verloren hatte. Der Oberst erklärte beharrlich, dass er mit seiner Crew drei Wochen in der Umlaufbahn verbracht hätte, aber das war ganz offensichtlich Irrsinn. Denn die Sojus-Kapsel war, wie das ganze andere künstliche Weltrauminventar, noch in der Nacht des Oktober-Ereignisses auf die Erde zurückgestürzt.
Zu Mittag aßen wir im Food Court in der Mall, wo Diane drei Mädchen entdeckte, die sie aus der Academy kannte. Sie waren schon etwas älter, unfassbar kultiviert und mondän in meinen Augen, mit blau oder rosa getönten Haaren, die teuren Schlaghosen ganz tief auf der Hüfte sitzend, um die blassen Hälse Kettchen mit winzigem Goldkreuz. Diane zerknüllte ihre Taco-Verpackung und ging zu ihrem Tisch rüber. Kurz darauf steckten sie alle vier die Köpfe zusammen und lachten. Plötzlich sahen mein Burrito und die Pommes ziemlich unappetitlich aus.
Jason wertete aus, was er in meinem Gesicht sah. »Weißt du«, sagte er sanft, »das ist halt unvermeidlich.«
»Was ist unvermeidlich?«
»Sie lebt nicht mehr in unserer Welt. Du, ich, Diane, das Große Haus und das Kleine Haus. Samstags in die Mall, sonntags ins Kino. Das hat funktioniert, solange wir Kinder waren. Aber wir sind keine Kinder mehr.«
Waren wir das nicht mehr? Nein, natürlich nicht — aber hatte ich mir auch überlegt, was das bedeutete oder bedeuten konnte?
»Sie hat jetzt schon seit einem Jahr ihre Periode«, fügte Jason noch hinzu.
Ich erbleichte. Das war mehr, als ich wissen musste. Und dennoch: ich war eifersüchtig, dass er es wusste und ich nicht. Sie hatte mir nichts von ihrer Periode oder ihren Freundinnen von der Rice Academy erzählt. All die Vertraulichkeiten, die sie mir am Telefon mitgeteilt hatte, waren, das begriff ich plötzlich, Kinderkram: Geschichten über Jason und ihre Eltern und darüber, was sie beim Abendessen nicht gemocht hatte. Hier war der Beweis, dass sie ebenso viel verborgen wie mitgeteilt hatte; hier manifestierte sich eine Diane, die ich nie kennen gelernt hatte.
»Wir sollten wieder nach Hause fahren«, sagte ich zu Jason.
Er warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Wenn du möchtest.« Er stand auf.
»Sagst du Diane Bescheid, dass wir gehen?«
»Ich glaube, sie ist beschäftigt, Tyler. Könnte mir vorstellen, dass sie noch etwas vorhat.«
»Aber sie muss mit uns zurückfahren.«
»Nein, das muss sie nicht.«
Ich war empört. Sie konnte uns nicht einfach fallen lassen, das war ihrer nicht würdig. Ich erhob mich und ging hinüber. Diane und ihre drei Freundinnen schenkten mir ihre volle Aufmerksamkeit. Ich wandte mich direkt an Diane, ignorierte die anderen. »Wir fahren nach Hause.«
Die drei Rice-Mädchen lachten lauthals los. Diane lächelte nur peinlich berührt und sagte: »Okay, Ty. Klasse. Wir sehen uns dann später.«
»Aber…«
Aber was? Sie sah mich schon nicht mal mehr an.
Als ich wegging, hörte ich, wie eines der Mädchen Diane fragte, ob ich »noch ein anderer Bruder« sei. Nein, erwiderte sie. Nur ein Junge, den sie kenne.
Jason, der ein etwas unangenehmes Mitgefühl an den Tag legte, bot mir an, auf der Rückfahrt die Räder zu tauschen. Sein Fahrrad interessierte mich zwar momentan herzlich wenig, aber ich dachte, dass so ein Fahrradtausch vielleicht eine ganz gute Möglichkeit wäre, meine Gefühle zu verbergen.