Das Schauspiel dauerte etwa acht Stunden. Am nächsten Morgen war ich im örtlichen Krankenhaus, um in der Notaufnahme auszuhelfen. Bis Mittag hatte ich sieben Fälle von Kohlenmonoxidvergiftung gesehen, Leute, die sich mit ihrem im Leerlauf laufenden Auto in der Garage eingeschlossen hatten. Bei den meisten konnte ich nur noch den Tod feststellen, und die Überlebenden waren kaum besser dran. Menschen, die ansonsten vollkommen gesund waren, denen man tagtäglich im Supermarkt begegnet sein mochte, würden den Rest ihres Lebens an Beatmungsgeräten zubringen, mit irreparablen Hirnschäden, Opfer eines fehlgeschlagenen Ausstiegsplans. Sehr unerfreulich. Doch die Schusswunden waren noch schlimmer. Ich konnte sie nicht behandeln, ohne an Wun Ngo Wen zu denken, wie er auf dem Highway in Florida gelegen hatte und das Blut aus den Trümmern seines Schädels gesprudelt war.
Acht Stunden. Dann war der Himmel wieder leer und die Sonne strahlte aus ihm heraus wie die Pointe eines schlechten Witzes.
Anderthalb Jahre später geschah das Gleiche noch einmal.
»Du siehst aus wie jemand, der seinen Glauben verloren hat«, sagte Hakkim einmal zu mir.
»Oder nie einen besessen hat«, erwiderte ich.
»Ich meine nicht den Glauben an Gott. Davon scheinst du vollkommen unbelastet zu sein. Der Glaube an irgendetwas anderes. Ich weiß nicht, an was.«
Das kam mir rätselhaft vor. Ich begriff es erst nach meinem nächsten Gespräch mit Jason.
Er rief mich zu Hause an (auf meinem regulären Handy, nicht dem verwaisten Gerät, das ich wie einen untauglichen Glücksbringer mit mir herumtrug). Ich sagte: »Hallo?«, und er sagte: »Du siehst dir das bestimmt gerade im Fernsehen an.«
»Was sehe ich mir an?«
»Stell einen der Nachrichtensender ein. Bist du allein?«
Die Antwort war ja. Freiwillig. Keine Molly Seagram, die das Ende aller Tage verkomplizierte.
Der Nachrichtensender zeigte ein mehrfarbiges Diagramm, dazu ein monotoner Offkommentar. Ich stellte ihn stumm. »Was sehe ich da, Jase?«
»Eine JPL-Pressekonferenz. Es geht um den vom Orbitalempfänger aufgenommenen Datensatz.«
Replikatorendaten, mit anderen Worten. »Und?«
»Wir sind im Geschäft.« Ich konnte sein Lächeln praktisch hören.
Der Satellit hatte multiple Radioquellen geortet, die Signale aus dem äußeren Sonnensystem sendeten. Was bedeutete, dass mehr als eine Replikatorenkolonie zur Reife gelangt war. Komplexe Daten, sagte Jason. Während die Replikatorenkolonien alterten, verlangsamte sich zwar ihr Wachstum, doch ihre Funktionen wurden raffinierter. Sie richteten sich nicht mehr nur nach der Sonne aus, um ihre Energiezufuhr zu sichern — sie analysierten das Sternenlicht und errechneten Planetenumlaufbahnen und verglichen die Ergebnisse mit den in ihren genetischen Code eingeschriebenen Mustern. Nicht weniger als ein Dutzend voll ausgereifte Kolonien hatten haargenau die Daten zurückgeschickt, für deren Sammlung sie konzipiert worden waren, vier binäre Datenströme, die Folgendes verkündeten:
1. Dies ist ein Planetensystem eines Sterns mit einer Sonnenmasse von 1,0.
2. Das System besitze acht große Planetenkörper (Pluto liegt unterhalb des wahrnehmbaren Massenlimits).
3. Zwei dieser Planeten sind optisch leer, umgeben von Spinmembranen.
4. Die berichterstattenden Replikatorenkolonien haben in den Reproduktionsmodus umgeschaltet, stoßen unspezifische Samenzellen ab und expedieren sie mittels Kometendampfexplosionen in Richtung benachbarter Sterne.
Dieselbe Botschaft, so Jason, sei an Benachbarte, weniger reife Kolonien geschickt worden, die in Reaktion darauf redundante Funktionen übersprangen und ihre Energie voll und ganz auf die eigene Fortpflanzung ausrichteten.
Mit anderen Worten: Wir hatten das äußere Sonnensystem erfolgreich mit Wuns quasibiologischen Systemen infiziert.
Welche nunmehr Sporen bildeten.
»Das verrät uns aber nichts über den Spin«, sagte ich.
»Natürlich nicht. Noch nicht. Doch dieses kleine Rinnsal an Information wird in nicht allzu langer Zeit zu einem reißenden Strom werden. Bald werden wir ein Spinverzeichnis aller Sterne im Umkreis erstellen können — und irgendwann der ganzen Galaxis. Auf dieser Grundlage sollten wir imstande sein zu deduzieren, woher die Hypothetischen kommen, wo sie überall Spins installiert haben und was mit Spinwelten geschieht, wenn ihre Sterne expandieren und ausbrennen.«
»Aber damit wäre noch nichts wieder in Ordnung gebracht, oder?«
Er seufzte, als hätte ich eine äußerst dumme Frage gestellt und ihn damit schwer enttäuscht. »Nein, vermutlich nicht. Aber ist wissen nicht besser als spekulieren? Vielleicht erfahren wir, dass wir dem Untergang geweiht sind, vielleicht erfahren wir aber auch, dass uns mehr Zeit bleibt, als wir denken. Denk dran, Tyler, wir arbeiten auch noch an anderen Fronten. Wir haben uns in die theoretische Physik aus Wuns Archiven vertieft. Wenn man die Spinmembran als ein Wurmloch darstellt, das ein Objekt umschließt, welches auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt…«
»Aber wir beschleunigen nicht. Wir bewegen uns nirgendwo hin.« Außer geradewegs in die Zukunft.
»Nein, aber wenn du die Rechnung durchführst, erhältst du Ergebnisse, die unseren Beobachtungen über den Spin entsprechen. Woraus wir Hinweise darauf gewinnen können, welche Kräfte die Hypothetischen manipulieren.«
»Aber zu welchem Zweck, Jase?«
»Es ist noch zu früh, das zu sagen. In jedem Fall glaube ich nicht an die Nutzlosigkeit von Wissen.«
»Auch wenn wir sterben?«
»Jeder muss mal sterben.«
»Ich meine, wir als Gattung.«
»Das bleibt abzuwarten. Was immer der Spin sein mag, er ist mehr als eine Art ausgefeiltes globales Euthanasieprogramm. Die Hypothetischen verfolgen irgendein Ziel.«
Vielleicht. Aber genau das, begriff ich jetzt, war der Glaube, der mich verlassen hatte. Der Glaube an die Große Rettung.
Alle Sorten und Geschmacksrichtungen der Großen Rettung. Etwa: in letzter Minute würden wir ein technisches Wundermittel ersinnen und uns in Sicherheit bringen. Oder: die Hypothetischen waren wohltätige Wesen, die den Planeten in ein Reich des Friedens verwandeln würden. Oder: Gott würde uns alle erretten, jedenfalls die wahren Gläubigen unter uns. Oder. Oder. Oder.
Die Große Rettung. Es war eine honigsüße Lüge. Ein Rettungsboot aus Papier. Es war nicht der Spin, der meine Generation so verkrüppelt hatte. Es war die Verlockung und der Preis der Großen Rettung.
Das Flackern kehrte ein Jahr später im Winter zurück, hielt achtundvierzig Stunden an und verschwand wieder. Viele von uns begannen es für eine Art Wetterleuchten zu halten, unvorhersehbar, aber im Grunde harmlos.
Im April gab es ein Flackern, das drei Tage dauerte und die Übertragung der Aerostatsignale störte. Dies rief eine neue (kleinere) Welle von Selbstmorden beziehungsweise Selbstmordversuchen hervor — in Panik gerieten die Leute weniger durch das, was sie am Himmel sahen, als wegen des Versagens ihrer Telefone und Fernsehgeräte.
Ich hatte aufgehört, die Nachrichtensendungen zu verfolgen, aber bestimmte Ereignisse konnte man nicht ignorieren: die militärischen Rückschläge in Nordafrika und Osteuropa, der von Anhängern eines Kults durchgeführte Staatsstreich in Simbabwe, der Massensuizid in Korea. Vertreter des apokalyptischen Islams erzielten in diesem Jahr große Erfolge bei Wahlen in Algerien und Ägypten. Ein philippinischer Kult, der sich dem Andenken an Wun Ngo Wen verpflichtet hatte — der als pastoralistischer Heiliger, als agrarischer Gandhi angesehen wurde —, hatte in Manila einen Generalstreik angezettelt.
Und ich bekam weitere Anrufe von Jason. Er schickte mir ein Telefon mit irgendeinem eingebauten Verschlüsselungsteil, das uns seiner Einschätzung nach einen »ganz guten Schutz gegen Stichwortjäger« bot, was immer das heißen mochte.