Ich ging zu dem Pferd, das Tigwood festhielt, während der Arzt es sich anschaute, und las den Namen, Peterman. Ich streichelte die alte Nase und dachte an die Rennen, die wir vor zwölf und mehr Jahren gewonnen und verloren hatten, als dieses klapprige Gestell sehnig und kraftvoll war, der Greis ein mit dem Kopf schlagender Prinz, ein Star. Mit einundzwanzig, seinem Alter nach der Liste, war er umgerechnet ungefähr so alt wie ein Mensch mit neunzig.
«Er ist in Ordnung«, sagte der Tierarzt.»Nur müde.«
Tigwood warf mir einen triumphierenden» Siehst du wohl«-Blick zu und führte meinen alten Freund zu den Ställen hinüber.
«Er ist der jüngste«, stellte ich beim Durchgehen der Liste fest.
Während wir ausluden, dämmerte es bereits, und ich schaltete alle Lichter im und am Transporter ein, damit wir es hell genug hatten. Der Tierarzt befand alle Angereisten vorläufig für gesund bis auf die letzten zwei aus den Boxen ganz vorn, bei denen er den Kopf schüttelte.
Das alte Pony war am schlimmsten dran. Es konnte kaum stehen, das arme Ding, geschweige denn die Rampe heruntergehen.
«Fortgeschrittene Hufrehe«, sagte der Tierarzt.»Am besten, es wird eingeschläfert.«
«Auf keinen Fall«, widersprach Tigwood entrüstet.»Seine Besitzerin ist fünfzehn und liebt es sehr. Ich habe versprochen, ihm ein behagliches Zuhause zu geben, und das kriegt es auch. Ich mußte ihr mein Wort geben.«
Ich dachte an Michael Watermeads Bemerkung über seine eigenen Kinder —»sie verstehen nicht, daß auch der Tod sein muß«. Tigwood verstand es zwar, aber die Aufrechterhaltung des Lebens um jeden Preis war für sein Einkommen offenbar ebenso wichtig wie für seinen Fanatismus bezeichnend.
«Lassen Sie mich wenigstens seine Alopezie behandeln«, schlug der Tierarzt vor, und Tigwood meinte widerwillig:»Also gut, dann morgen«, worauf er das arme kleine Ding buchstäblich schubste, bis ihm nur die Wahl blieb, entweder die Rampe hinunterzuzittern oder zu stürzen.
«Das ist ja widerwärtig«, sagte Lizzie leise.
Lorna hörte es und fauchte sie an:»Widerwärtig sind die Leute, die Pferde töten, bloß weil sie alt sind. «Sie war damit beschäftigt, ihre eigenen Zweifel zu unterdrücken, stellte ich fest.
«Alte Pferde haben ein Recht zu leben. Kentauros ist eine wundervolle Einrichtung.«
«Ja«, meinte Lizzie trocken.
Lorna warf ihr einen unfreundlichen Blick zu, den sie dann auf mich übertrug.
«Sie wissen Johns Arbeit nicht zu schätzen«, hielt sie mir vor.
«Und kommen Sie mir nicht mit dem Scheiß, daß man ein Tier von seinen Qualen erlösen muß. Man weiß doch gar nicht, ob es sich quält.«
Mir schien, das sich das schon ganz gut erkennen ließ, aber ich hatte nicht vor zu streiten, und außerdem hatte ich viele alte Pferde gekannt, die gesund und munter bis Mitte der Zwanzig gelebt hatten. Mein Vater, der Trainer, hatte sich um seine Lieblingspferde gekümmert, bis sie auf der Weide starben, und sie den ganzen Winter hindurch mit Hafer gefüttert, damit sie gut gepolstert waren. Sie hatten alle besser ausgesehen als die dürren Klepper hier.
Ich sagte:»Es ist schön, den alten Peterman noch mal zu sehen, und die Besitzer sind für Ihre persönliche Betreuung sicher dankbar.«
«Und für die von John!«
«Auch für die von John«, sagte ich.
Alle drei schauten wir zu, wie Tigwood das Pony zur Koppel führte, dessen entzündete Hufe bei jedem langsamen Schritt zurückzuckten, während es den Kopf vor Schmerz hängenließ. Die fünfzehnjährige Besitzerin, dachte ich, war von Liebe erfüllt, hatte aber kein Erbarmen, eine fürchterliche Kombination.
Lorna warf die blonde Mähne zurück und ließ keine Kritik gelten. Der Tierarzt schüttelte den Kopf, Lizzie blickte immer noch angewidert, Aziz zuckte die Achseln. Er hatte die Fracht lebend abgeliefert: damit war die Sache für ihn abgehakt.
Tigwood ließ das Pony auf der Koppel frei und kam wieder, um sein Büro aufzuschließen. Wir gingen alle hinter ihm her und betraten einen funktionalen Raum von etwa viereinhalb mal viereinhalb Metern, mit Neonlicht und Aktenschränken an den Wänden. Der braune Flüssigholzboden wurde durch zwei große, gemusterte Teppiche aufgelockert, und die Wände waren mit gerahmten Fotos von alten Pferden auf sonnenbeschienenen Weiden tapeziert. Tigwood ging durch den Raum zu zwei nebeneinanderstehenden Metallschreibtischen, der eine bestückt mit einem Computer samt Drucker, der andere mit den üblichen Utensilien des Vor-Computer-Zeitalters. Eine Reihe von Sammelbüchsen stand auf einem der Aktenschränke, und auf einem anderen eine Teemaschine. Mehrere Bücherregale waren gut sichtbar vollgestellt mit Schriften über die Pflege und die medizinischen Probleme gealterter Vollblüter. Es gab zwei gemütliche, mit Wollstoff bezogene Sessel und freundliche blaue Vorhänge an den beiden Fenstern. Wenn jemals einer von den Besitzern der Pferde an die Tür klopfte, würde die Ausstattung die Botschaft vermitteln, daß hier jeder Pfennig auf die gute Sache verwendet wurde, wobei man zugleich aber auch den gehobenen Ansprüchen der Besitzer entgegenkam.
Das mußte man ihm lassen, dachte ich. Tigwood hatte eine glückliche Hand gehabt; zumindest im Innern.
Er bat den Tierarzt, ihm kurz zu attestieren, daß sechs (namentlich genannte) Pferde ohne Zwischenfall von
Yorkshire angereist und in guter Verfassung bei ihm eingetroffen waren. Ein (namentlich genanntes) Pferd zeigte Anzeichen von Erschöpfung und bedurfte besonderer Pflege. Ein an Hufrehe erkranktes Pony brauchte ärztliche Behandlung. Alle waren von Croft Raceways befördert und Kentauros übergeben worden.
Zufrieden machte Tigwood eine Fotokopie von der Bescheinigung und gab sie mir mit einem süffisanten Lächeln.»Sie haben viel Lärm um nichts veranstaltet, Freddie. Den Doktor können Sie bezahlen, denn ich werd’s nicht tun.«
Ich zuckte die Achseln. Da ich die Hilfe angefordert und sie auch bekommen hatte, machte es mir nichts aus, dafür zu zahlen. Im Gegenteiclass="underline" Die schriftliche Erklärung schützte mich vor allen Fahrlässigkeitsvorwürfen, die Tigwood sich noch einfallen lassen konnte, wenn er erst meine Rechnung erhielt. Ich sagte, ich sei sehr froh, daß den Pferden nichts fehle, aber es sei doch immer schön, Gewißheit zu haben.
Mit unterschiedlichen Gefühlen verließen alle wieder das Büro; der Tierarzt fuhr winkend davon, während Tig-wood und Lorna in den Transporter kletterten, um noch mit zum Bauernhof zu fahren, wo beide am Morgen ihre Wagen abgestellt hatten. Lizzie und ich fuhren hinter dem Transporter her, und Lizzie fragte, ob das Ganze nicht ein Sturm im Wasserglas gewesen sei.
«Hat dein Fahrer da nicht überreagiert?«fragte sie.
«Mag sein. Aber er ist erst seit heute bei uns. Und fahren kann er jedenfalls, wenn er die alle heil hierhergebracht hat.«
Lorna und Tigwood verließen den Bauernhof getrennt, jeder nach seiner Fasson eingeschnappt.
Aziz sagte verlegen:»Das tut mir alles sehr leid. «Keine weißen Zahnreihen. Die glänzenden Augen niedergeschlagen.
«Es braucht Ihnen nicht leid zu tun«, versicherte ich ihm.
«Sie haben richtig gehandelt.«
Lizzie und ich sagten ihm adieu, als er ans Auftanken ging, und fuhren nach Hause, um dort eine kurze Pause einzulegen und dann essen zu gehen.
Drei Rückrufwünsche waren auf dem Anrufbeantworter, zwei geschäftliche und einer von Sandy Smith.
Ich rief ihn zuerst an, und er gab mir zu verstehen, was er für mich habe, sei sozusagen außerdienstlich und inoffiziell.
«Danke, Sandy.«
«Also, Jogger ist gestern in der Pathologischen im Krankenhaus von Winchester seziert worden. Todesursache gebrochenes Genick. Er hat einen Schlag am Hinterkopf, an der Schädelbasis, abgekriegt, und die beiden oberen Halswirbel waren ausgerenkt wie beim Erhängen, aber gehenkt worden ist er nicht — keine Strickspuren. Jedenfalls wird morgen in Winchester die gerichtliche Untersuchung eröffnet. Da geht es nur um die Identifizierung, die besorge ich selbst, weil keine Angehörigen da sind, und um Dr. Farways Gutachten und die Polizeifotos. Danach wird der Coroner die Verhandlung zu Ermittlungszwecken für ungefähr drei Wochen vertagen. Routineverfahren bei allen Unfällen. Man wird Sie nicht brauchen.«