Die Stufen waren parallel zur Mauer angelegt, die dem Meer zugewandte Seite zum Wasser hin weit offen. Ich schob mich noch eine Stufe höher und blieb einfach erschöpft liegen, schlotternd, durchgefroren, schwer gebeutelt, mit beinah völliger Funkstille im Gehirnkasten. Meine Füße, noch im Wasser, hoben und senkten sich in einem fließenden Rhythmus, und erst, als eine Welle mir über die Knie schwappte und mich wieder hinauszuspülen drohte, dämmerte mir ganz allmählich, daß die Flut lief und daß ich, wenn ich nicht weiter nach oben kletterte, bald wieder dort sein würde, wo ich hergekommen war, aber ohne die Kraft, den Kampf noch einmal aufzunehmen.
Ich rutschte hastig zwei Stufen höher. Drei. Über mir erblickte ich einen Laternenpfahl.
Als wieder eine Andeutung von Kraft in meine Glieder zurückkehrte, kroch ich weiter, immer an die Innenwand gedrückt, denn mir war himmelangst, ich könnte über den offenen Rand zurück ins Meer stürzen. In wahren Alpträumen, dachte ich, stürzt man nicht aus Hochhäusern, man fällt von Treppen, die gedacht sind, um an Bord eines Schiffes zu gelangen.
Die schier endlose Kletterpartie war zu Ende. Ich kam auf harten, trockenen, flachen Straßenbelag, schleppte ich zu dem Laternenpfahl und blieb der Länge nach mit dem Gesicht nach unten vor ihm liegen, den einen Arm um ihn geschlungen wie um mich zu vergewissern, daß wenigstens er kein Traum war.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich hatte zu ausschließlich um mein Leben gekämpft, um mich um solche Nebensächlichkeiten zu kümmern. Mein Kopf pochte schmerzhaft. Als ich auszuknobeln versuchte, wieso, verlor die Erinnerung sich im Nebel.
Schritte näherten sich, knirschend wie auf Kies. Einen entsetzlichen Augenblick lang dachte ich, die Leute, die mich ins Wasser geworfen hatten, hätten mich wieder gefunden, aber die Stimme, die mich von oben herunter ansprach, enthielt eine Drohung anderer Art, den heftigen Unwillen einer beleidigten niedrigen Amtsperson:»Hier dürfen Sie nicht liegen. Verschwinden Sie.«
Ich drehte mich auf den Rücken und starrte direkt in die Augen eines riesigen Hundes. Der Hund zog an einer Leine, die ein stämmiger Mensch in marineblauer Uniform mit Schirmmütze und silbern funkelnden Dienstabzeichen festhielt. Und der Hund trug einen Maulkorb, der aussah, als ob er für den Zweck nicht genügte.
«Haben Sie gehört? Sie sollen verschwinden.«
Ich wollte etwas sagen und brachte nur ein unverständliches Krächzen heraus.
Die Amtsperson sah verärgert aus. Der Hund, ein unfreundlicher Rottweiler, senkte hungrig den Kopf zu meinem Gesicht hin.
Im zweiten Anlauf sagte ich:»Ich bin ins Wasser gefallen.«
Diesmal gelangte die Botschaft an ihr Ziel, aber mit bescheidener Wirkung.
«Von mir aus können Sie den Kanal durchschwommen haben, jetzt stehen Sie auf und verschwinden Sie.«
Ich machte einen Versuch, mich aufzusetzen. Schaffte es, mich auf einen Ellbogen zu stützen. Der Hund wich vorsichtshalber einen Schritt zurück, ohne sich festzulegen.
«Wo bin ich?«fragte ich.
«Am Kai natürlich.«
Am Kai. Wo sonst?
«An welchem Kai?«fragte ich.»Welcher Hafen?«
«Was?«
«Ich… ich weiß nicht, wo ich bin.«
Meine offensichtliche Schwäche beruhigte ihn noch längst nicht. Den Hund in Bereitschaft, sagte er mißtrauisch:»Southampton natürlich.«
Am Kai von Southampton. Wieso am Kai von Southampton? Meine Verwirrung nahm zu.
«Los, kommen Sie. Hier hat niemand Zutritt, wenn die Docks geschlossen sind. Und ich kann Besoffene nicht ausstehen.«
«Ich habe mir den Kopf gestoßen«, sagte ich.
Er öffnete den Mund, als ob er sagen wollte, von ihm aus könnte ich enthauptet worden sein, meinte statt dessen aber widerwillig:»Sind Sie über Bord gegangen?«
«Ich weiß es nicht genau.«
«Trotzdem dürfen Sie hier nicht liegenbleiben.«
Ich war mir gar nicht sicher, ob ich aufstehen und gehen könnte, und das mußte er mir wohl angesehen haben, denn plötzlich streckte er die Hand aus, um mir aufzuhelfen. Mit einem Ruck zog er mich hoch, und ich hielt mich an dem Laternenpfahl fest und fühlte mich benommen.
«Sie brauchen einen Arzt«, sagte er vorwurfsvoll.
«Lassen Sie mich nur mal verschnaufen.«
«Hier dürfen Sie nicht bleiben. Das ist gegen die Vorschriften.«
Aus gleicher Höhe betrachtet, war er ein trotzig wirkender Zeitgenosse mit dicker Nase, kleinen Augen und dem dünnen, verkniffenen Mund beständigen Auf-der-Hut-Seins. Er hatte Angst vor mir gehabt, sah ich.
Sein Benehmen störte mich nicht. Als Nachtwächter in einer Hafengegend hatte man mit Dieben und anderen Halunken zu rechnen, und ein Mann, der herumlag, wo er nicht sollte, war so lange als Gefahr anzusehen, bis er sich als harmlos herausstellte.
«Haben Sie Telefon?«fragte ich.
«Im Wachraum, ja.«
Er sagte nicht, daß ich es nicht benutzen durfte, und das genügte als Einladung. Ich ließ den Laternenpfahl los und wankte unsicher ein paar Schritte, bevor ich jäh nach der Seite wegtaumelte, so sehr ich auch bemüht war, vernünftig zu sein und geradeaus zu gehen.
«He«, sagte er rauh und packte mich am Arm.»Gleich fallen Sie noch mal rein.«
«Danke.«
Er hielt mich am Ärmel und stützte mich zwar nicht direkt, war aber unbedingt eine Hilfe. Mit Füßen, die kaum zu mir zu gehören schienen, ging ich oder vielmehr schlurfte ich ein langes Hafenbecken entlang und kam endlich zu ein paar großen Gebäuden.
Wir traten durch ein hohes Eisentor in einer hohen Umzäunung und kamen auf einen Gehsteig. Vor uns lag ein Parkplatz mit einer niedrigen Mauer am Ende, dahinter verlief eine Straße. Kein Verkehr. Ich wollte nachsehen, wie spät es war, und stieß auf ein kleines Problem: keine Armbanduhr.
Ich blickte matt die Straße rauf und runter, während der Nachtwächter eine Tür aufschloß, und sah plötzlich einen Orientierungspunkt vor mir, etwas, das ich kannte; ein Gebäude, das mir genau verriet, wo ich war, wenn auch noch immer nicht, warum.
«Kommen Sie rein«, forderte der Nachtwächter mich auf.
«Der Apparat hängt an der Wand. Sie müssen das Gespräch natürlich bezahlen.«
«M-hm. «Ich nickte zustimmend, tastete nach Brieftasche und Kleingeld, fand aber weder das eine noch das andere. Leere Taschen. Der Nachtwächter beobachtete die Suche aufmerksam.
«Sind Sie ausgeraubt worden?«
«Es hat den Anschein.«
«Sie erinnern sich nicht?«
«Nein. «Ich sah auf das Telefon.»Ich kann ein R-Gespräch führen«, sagte ich.
Er winkte zustimmend. Ich nahm den Hörer von der Wand, und mir fiel ein, daß ich, wenn ich zu Hause anrief, meinen Anrufbeantworter bekommen würde. Er ließ sich zwar von fern abschalten, aber nicht per R-Gespräch. Seufzend wählte ich die Nummer, hörte meine Stimme sagen, ich sei nicht da, aber man könne eine Nachricht hinterlassen, und gab den Code zum Umschalten ein. Der Nachtwächter fragte ungehalten, was ich da machte.
«Das Amt anrufen«, sagte ich und wählte neu.
Die Telefonistin probierte meine Nummer und sagte, es melde sich niemand.
«Versuchen Sie es bitte weiter«, sagte ich eindringlich.»Ich weiß, daß jemand da ist, aber sie wird schlafen. Sie müssen sie wachkriegen.«
Lizzies Schlafzimmer lag neben meinem, wo das Telefon klingeln würde. Ich beschwor sie im stillen aufzuwachen, das Klingeln leidzubekommen, aufzustehen und an den Apparat zu gehen. Komm schon, Lizzie… Herrgott noch mal, komm.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie endlich schlaftrunken» Hallo?«sagte. Die Telefonistin fragte meiner Anweisung folgend, ob sie ein Gespräch von ihrem Bruder, Mr. Croft, aus Southampton annehme.