«Es geht bestimmt auch einfacher«, sagte ich.»So würde doch keiner seinen Hals riskieren.«
«Sie haben es nicht mit gesundem Menschenverstand zu tun«, sagte Aziz.»Ihre Schwester hat mir das Schlachtfeld in Ihrem Wohnzimmer gezeigt. Da läuft ein waschechter Berserker frei herum. Hören Sie ihn nicht? Der ruft Ihnen zu: >Schauen Sie her, schauen Sie, was ich kann, wie schlau ich bin.< Solche Naturen lieben das Risiko. Sie brauchen es zum Leben. Es macht ihnen Spaß.«
Ich fragte:»Woher wissen Sie das?«
Die glänzenden Augen flackerten.»Beobachtung.«
«Beobachtung von wem?«
«Ach, von diesem und jenem. «Er wedelte flüchtig mit der Hand.»Niemand Bestimmtes.«
Ich verfolgte es nicht weiter. Er würde es mir nicht sagen. Dennoch interessierte mich seine Einschätzung. Sie paßte ziemlich gut zu dem, was der Experte über das Verhalten der Erfinder von Computerviren gesagt hatte, das Schaut-wie-schlau-ich-bin-Syndrom. Das übersteigerte Selbstwertgefühl, das sich nur in Zerstörung äußern konnte.
«Stacheln Berserker«, sagte ich langsam,»sich gegenseitig an?«
Sein Gesichtsausdruck war unnachahmlich durchtrieben.
«Schon mal von Fußball-Rowdies gehört?«
Mörderisch, dachte ich.
Ich dankte Aziz, daß er Lizzie gefahren hatte.
«Nette Frau«, sagte er.»Gern geschehen.«
Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht, bat Aziz, sich bei Harve nach der Arbeit für den nächsten Tag zu erkundigen, und sagte Isobel und Rose, ich käme am Morgen wieder.
Auf dem kurzen Heimweg fiel mir auf, daß mein Nachbar einen kleinen Stapel Ziegelsteine neben dem Tor hatte. Die Steine waren schon seit Wochen da, wurde mir klar. Ich hatte nie auf sie geachtet.
Ich hielt die alte Kiste vor dem Wrack des Jaguars an und blickte durch das Loch, das einmal das Fenster auf der Fahrerseite gewesen war. In dem zusammengedrückten Innern lag tatsächlich ein Ziegelstein — oder die Reste eines Ziegelsteins. Der Stein war in drei Teile zerbrochen. Ziegel waren spröde. Ziegelstaub war rötlich, wie Rost.
Du phantasierst, dachte ich.
Ich schloß mir mit dem Schlüssel, den Aziz mir von Lizzie mit zurückgebracht hatte, die Haustür auf und schaltete den Fernseher in meinem Schlafzimmer ein, um mir die Rennen in Cheltenham anzusehen.
Erst saß ich im Sessel, dann legte ich mich aufs Bett, dann nickte ich ein, als hätte mich der Hirntod ereilt, und schlief weiter, bis längst das letzte Pferd ins Ziel gegangen war.
Am Donnerstag morgen, dem Tag des Cheltenham Gold Cup, einst Anlaß für erhöhten Puls und hochfliegende Hoffnungen, erwachte ich mit steifen Gliedern und dem sehnlichen Wunsch, mich zusammenzurollen und die Welt draußen zu vergessen.
Statt dessen zog ich, mehr von Neugier als von Pflichtgefühl getrieben, Schlips und Kragen an und fuhr nach Winchester, mit einem 5-Minuten-Zwischenhalt bei Isobel und Rose. Sie könnten die Zeit bis zum Eintreffen des Computerfachmanns damit ausfüllen, daß sie eine Liste erstellten von allen, die in der vergangenen Woche auch nur einen Fuß in ihr Büro gesetzt hatten, schlug ich vor. Sie sahen mich verständnislos an. Wie es schien, hatten zig Leute bei ihnen auf der Matte gestanden, angefangen bei den Fahrern. Die Fahrer würde ich als selbstverständlich betrachten, sagte ich. Schreibt alle auf, die sonst noch da waren, und kennzeichnet die Freitagsbesucher mit einem Sternchen. Sie zweifelten, ob sie sich erinnern könnten. Versucht es, sagte ich.
Ich holte Dave aus der Kantine und nahm ihn mit nach Winchester, obwohl ihm wenig daran lag und er während der ganzen zwanzigminütigen Fahrt ungewohnt still war.
Die Verhandlung über Kevin Keith Ogden erwies sich, wie Sandy vorausgesagt hatte, als relativ unkomplizierte
Geschichte. Der Coroner, ruhig und geschäftsmäßig, hatte vor der Sitzung die Akten studiert und hielt es bei aller Gründlichkeit für unnötig, Zeit zu vergeuden.
Er sprach freundlich mit einer dünnen, unglücklichen Frau in Schwarz, die bejahte, daß sie Lynn Melissa Ogden sei und daß sie den Toten als ihren Mann, Kevin Keith, identifiziert habe.
Bruce Farway sagte aus, daß er am vergangenen Donnerstag abend zum Haus von Frederick Croft gerufen worden sei und den Tod von Kevin Keith festgestellt habe. Von einem Blatt ablesend, bestätigte der Coroner den Obduktionsbefund, wonach der Tod durch Herzversagen infolge einer Reihe abstruser medizinischer Faktoren eingetreten war, die wahrscheinlich niemand im Raum verstand außer Farway, der nickte.
Der Coroner hatte ein Schreiben von Kevin Keiths Hausarzt erhalten mit Angaben zur Krankengeschichte und zu den Medikamenten, die ihm verschrieben worden waren. Er fragte die Witwe, ob ihr Mann die Tabletten gewissenhaft eingenommen habe. Nicht immer, erwiderte sie.
«Mr… äh… Yates?«sagte der Coroner und sah sich fragend um.
«Hier, Sir«, antwortete Dave mit belegter Stimme.
«Sie haben Mr. Ogden in einem von Mr. Crofts Pferdetransportern mitgenommen, nicht wahr? Erzählen Sie uns davon.«
Dave, schwitzend und verlegen, faßte sich so kurz wie möglich.
«Wir haben ihn nicht wachgekriegt in Chieveley…«
Der Coroner fragte, ob man Kevin Keith davor bereits angemerkt habe, daß es ihm nicht gut ging.
«Nein, Sir. Er hat auch kein Wort gesagt. Wir dachten irgendwie, er schläft.«
«Mr. Croft?«sagte der Coroner und griff mich mühelos heraus.»Sie haben Polizeiwachtmeister Smith gerufen, nachdem Sie Mr. Ogden gesehen hatten?«
«Ja, Sir.«
«Und Wachtmeister Smith, Sie haben Dr. Farway gerufen?«
«Ja, Sir.«
Der Coroner raffte seine Papiere zusammen und blickte die Anwesenden gleichmütig an.»Das Gericht entscheidet, daß Mr. Kevin Keith Ogden eines natürlichen Todes gestorben ist. «Als sich niemand regte, setzte er nach einer Pause hinzu:»Das war’s, meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sie haben sich in dieser traurigen Angelegenheit alle beispielhaft vernünftig und hilfsbereit verhalten.«
Er schenkte Mrs. Ogden ein letztes mitfühlendes Lächeln, und damit hatte es sich. Wir strömten hinaus auf den Gehsteig, und ich hörte, wie Mrs. Ogden sich hilflos nach einem Taxi erkundigte.
«Mrs. Ogden«, sagte ich,»kann ich Sie mitnehmen?«
Sie richtete die grauen, kurzsichtig wirkenden Augen auf mein Gesicht und wedelte unschlüssig mit den Händen.»Ich will nur zur Bahn.«
«Ich bringe Sie hin… wenn Ihnen ein Fourtrak recht ist.«
Sie sah aus, als hätte sie noch nie von einem Fourtrak gehört, wäre zur Not aber auch mit einem Elefanten einverstanden gewesen.
Ich überredete Sandy, Dave mit zurück nach Pixhill zu nehmen, und fuhr mit Mrs. Ogden los, die zwar nicht direkt heulte, aber eindeutig unter Schock stand.
«Das hat ja nicht lang gedauert, was?«sagte sie bedrückt.
«Keine große Sache irgendwie. So als Schlußstrich unter ein Menschenleben.«
«Keine große Sache«, gab ich zu.»Aber vielleicht geben Sie ja noch eine Trauerfeier.«
Das munterte sie auch nicht auf. Sie sagte:»Sind Sie Freddie Croft?«
«Ganz recht. «Ich sah sie an und überlegte.»Wann geht Ihr Zug?«fragte ich.
«Noch eine Ewigkeit nicht.«
«Wie wäre es dann mit einer Tasse Kaffee?«
Sie sagte, das wäre nett, und ließ sich apathisch in einen Sessel in der leeren Eingangshalle eines Pseudo-Tudor-Hotels sinken. Der Kaffee brauchte seine Zeit, kam aber frisch in einer Warmhaltekanne, mit Sahne und Rosenknospenporzellan auf einem silberfarbenen Tablett.