«He«, machte Farway.
«Wenn jemand bei der Fahrt in einem Wagen von mir stirbt, möchte ich ihn gerne etwas kennenlernen.«
«Aber Sie haben kein Recht dazu.«
Ich sah trotzdem den mageren Inhalt durch, der mir wenig aufschlußreich erschien. Ein Taschenrechner. Ein Notizblock, unbeschrieben. Ein Stoß Ansichtskarten in einem Gummiband, alle mit derselben Aufnahme eines Hotels auf dem Land — Werbezettel. Ein Röhrchen Aspirin, eine Schachtel Tabletten gegen Sodbrennen, zwei Fläschchen Wodka, wie man sie auf Flugreisen bekommt, beide voll.
«Also hören Sie«, sagte Farway unbehaglich.
Ich schloß die Aktentasche und stand auf.»Schon passiert«, sagte ich.
Die Bestatter brauchten ihre Zeit, und als sie Kevin Keith endlich herausbrachten, kamen sie vorn durch die Beifahrertür, nicht aus der Pflegertür weiter hinten, durch die wir alle bisher eingestiegen waren, um an die Rückbank zu gelangen. Wegen der Starre, die nach dem Tod eingetreten war, konnte die Leiche offenbar nur nach vorn auf die quer über den Vordersitzen liegende Bahre gehoben werden, und so kam sie dann mit den Füßen voran, ganz in Segeltuch gehüllt, mit Gurten festgeschnallt nach draußen.
Wie es aussah, war die Leiche schwer und zudem sperrig, da der gekrümmte rechte Arm sich nicht anlegen ließ. Von Achtung vor dem Toten konnte keine Rede sein; er stellte vielmehr ein ähnliches Problem dar wie ein widerspenstiger Konzertflügel, der aus einer engen, verwinkelten Dachstube herausgeholt werden soll. Leichenträger gewöhnten sich wohl daran. Einer der Männer dachte zwischen Äußerungen wie» hau ruck «und» der Arm klemmt in der Tür «laut über die Chancen seiner Fußballmann-schaft am kommenden Samstag nach. Sie schoben die Bahre unsanft durch die offene Heckklappe des Leichenwagens, als führten sie Hausmüll ab, und ich sah, wie sie den in Segeltuch gehüllten Ogden von der Bahre in einen offenen Metallsarg luden.
Auch Farway, mehr an Leichen gewöhnt als ich, nahm den Abtransport gelassen. Er werde die Obduktion nicht selbst durchführen, sagte er mir, aber es sehe ihm nach einfachem Herzstillstand aus. Bloßes Pech. Die gerichtliche Untersuchung dürfte lediglich eine Formalität sein. Er werde den Totenschein ausstellen. Mich werde man vielleicht gar nicht vorladen.
Er sagte beiläufig gute Nacht, stieg in sein Auto und folgte dem Leichenwagen, der über den Asphalt davonrollte. Sandy nahm die Reise- und die Aktentasche an sich und fuhr gemächlich hinterher.
Alles wirkte plötzlich sehr ruhig. Ich sah hinauf zu den Sternen, ewig im Angesicht des Vergänglichen. Ob Kevin Keith Ogden gewußt hatte, daß er stirbt, während er auf der Kunstlederbank hinter dem donnernden Motor lag?
Sehr wahrscheinlich nicht. Beim Pferderennen hatte ich bei manchen Stürzen das Bewußtsein verloren, und das letzte, was ich zu sehen bekam, war ein wirbelndes, verwischtes Ineinander von Gras und Himmel. Nach dem Aufprall hätte ich nicht gemerkt, wenn ich gestorben wäre; und manchmal, wenn ich glücklich wieder zu mir kam, hatte ich gedacht, daß ein Tod, von dem man nichts merkte, ein Segen wäre.
Noch einmal kletterte ich ins Fahrerhaus. Auf der zusammengerollten Pferdedecke sah man noch die Kuhle, die Ogdens Kopf hinterlassen hatte, und in der Bankmitte war ein unansehnlicher Fleck, der morgen beseitigt werden mußte. Verdammter Kerl, dachte ich.
Brett hatte den Zündschlüssel stecken lassen, auch dies ein Tabu für mich. Ich trat nach vorn, zog den Schlüsselbund ab und überzeugte mich, daß wenigstens die Bremsen gezogen waren und nur das Innenlicht brannte. Schließlich schaltete ich auch das aus, sprang aus der Beifahrertür und sperrte sie hinter mir ab.
Die Fahrer- und die Beifahrertür hatten denselben Schlüssel wie die Zündung, ein großes ausgefeiltes Ding, das der Hersteller mitlieferte. Ich sperrte die Fahrertür ab — Brett hatte es versäumt — und verschloß mit dem zweiten, normaleren Schlüssel die Pflegertür. Ein dritter Schlüssel war für das kleine Fach unter dem Armaturenbrett, das den Anschluß für das Funktelefon enthielt und etliche — wie ich mich überzeugt hatte, noch vollständige — Papiere.
Ich ging noch einmal zu einer letzten Inspektion um den Transporter herum. Alles schien in Ordnung zu sein. Die beiden Rampen für die Pferde waren hochgeklappt und verriegelt. Die fünf für Menschen bestimmten Türen, zwei vorn, drei für die Begleiter, waren ebenfalls fest zu. Auch die Klappe des Einfüllstutzens für die Dieseltanks, zu öffnen mit dem vierten und letzten Schlüssel am Ring, war gesichert.
Trotzdem war mir unbehaglich zumute, und als ich durch die Hintertür wieder ins Haus ging, schloß ich sie ausnahmsweise ab. Ich streckte die Hand aus, um das Außenlicht zu löschen, überlegte es mir dann aber und ließ es an.
Meine Lkws verbrachten die Nacht gewöhnlich in einem großen, von einer Backsteinmauer umgebenen ehemaligen Bauernhof, dessen breites, robustes Eingangstor mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Der Neun-PferdeTransporter, so allein auf meinem Parkplatz, sah irgendwie schutzlos aus, auch wenn Lkws dieses Kalibers selten gestohlen werden. Da waren zu viele Kennziffern auf zu vielen Teilen eingestanzt, abgesehen von dem sechsfach aufgemalten Firmennamen Croft Raceways, so daß die Kiste insgesamt kaum ideal war, wenn man nicht auffallen wollte.
Ich machte den alten Eintopf noch mal heiß, gab einen Schuß Rotwein als Würze hinzu und aß das Ganze bei offenen Vorhängen im Wohnzimmer, so daß ich den Pferdetransporter im Auge behalten konnte.
Es passierte rein gar nichts. Mein Unbehagen legte sich allmählich, und ich schrieb es allein dem Tod von Ogden zu.
Ich bekam noch mehrere Anrufe und rief eigens meinen Fahrdienstleiter an, um mich zu vergewissern, daß alle anderen Transporter wieder auf dem Hof standen. Die übrigen Touren des Tages waren offenbar einmal ohne Zwischenfall und ganz nach Plan verlaufen: keine durcheinandergebrachten Zeiten, kein Maschinenschaden, kein vergessenes Personal oder Material. Alle Fahrer hatten ihren Fahrtnachweis ausgefüllt und ihn, wie gewünscht, am Büro in den Briefkasten geworfen. Die Vorhängeschlösser waren zu. An Schlüssel war nirgends heranzukommen. Die Botschaft, die ich empfing, lautete trotz des toten Anhalters, daß der Boss sich beruhigt schlafen legen konnte.
Genau das tat der Boss schließlich auch, obwohl ich von meinem Schlafzimmer, das über dem Wohnzimmer lag, den Pferdetransporter draußen im Lampenlicht immer noch gut sehen konnte. Ich ließ die Vorhänge offen, und wenn ich sie zum Schlafen auch nie ganz zuzog, wachte ich wegen der ungewohnten Helligkeit draußen doch mehrmals auf. Gegen drei Uhr früh wurde ich plötzlich hellwach, aufgestört durch mehr als bloßes Licht. Gestört durch ein Blitzen an der Zimmerdecke, schwach und undeutlich wie Wetterleuchten, gesehen durch die Augenlider.
Das Wetter war zuletzt mild gewesen, obwohl es erst Anfang März war, aber es kam mir vor, als sei die Temperatur in den letzten Stunden um zehn Grad gefallen. Barfuß, in Pyjamashorts, stand ich auf und ging fröstelnd ans Fenster.
Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Ich drehte mich halb wieder dem warmen Bett zu und erstarrte dann, ernstlich beunruhigt.
Die Pflegertür, durch die wir alle eingestiegen waren, war einen Spalt offen, nicht fest verschlossen, wie ich sie zurückgelassen hatte.
Offen.
Ich sah genau hin, aber es gab kein Vertun. Eine dünne Schattenlinie war erkennbar, wo die Tür sich nicht mehr nahtlos in den Rahmen fügte. Das Blitzen, das ich gesehen hatte, mußte ein beim Öffnen der Tür entstandener Lichtreflex gewesen sein.
Ohne ans Anziehen zu denken, stürzte ich Hals über Kopf die Treppe hinunter zur Hintertür, schloß sie auf, sprang in ein Paar Gummistiefel und schnappte mir einen alten Regenmantel vom Haken. Während sich meine Arme noch in den Ärmellöchern verhedderten, rannte ich über den Asphalt und riß die Tür auf.
Es war jemand drin, eine Gestalt in Schwarz, von meinem Anblick so überrascht wie ich von ihrem. Erst stand sie mit dem Rücken zu mir, doch als sie dann mit einem wütenden Ausruf, der eigentlich nur ein Keuchen war, herumfuhr, sah ich, daß ihr Kopf in einer schwarzen Kapuzenmütze steckte, mit zwei Schlitzen für die hell glänzenden Augen — die Klischeemaskierung von Banditen und Terroristen.