Es war nach Mitternacht. Der Himmel war klar und kalt, sternenhell. All diese fernen Sonnen, dachte ich; so rätselhaft und ungreifbar wie Ehrlichia risticii.
Die Transporter waren alle daheim im Nest und schimmerten matt im Licht der Notlampe über der Kantinentür. Ein ruhiger Sonntagabend, Stille nach der Hektik. Diesmal war ich nicht in eine lebensgefährliche Situation hineinmarschiert.
Harve hatte vermutlich seine letzte Runde gedreht und schaute sich Fußballvideos an. Ich schloß die Bürotür auf, ging ohne Licht zu machen nach hinten in mein Zimmer, und der schwache Schein, der durch die Fenster drang, genügte mir auch, um die Taschenlampe zu finden, die ich im Schreibtisch verwahrte. Die Batterien waren noch geladen. Im Hinausgehen schloß ich die Bürotür wieder ab und tappte zu Joggers altem Lieferwagen hinüber, von dessen Vordersitzen ich alle meine Monster halbwegs sehen konnte und einige ganz deutlich.
Der Super-Sechser, mit dem Lewis nach Mailand fahren sollte, gehörte zu den gut sichtbaren. Ich machte es mir im dunklen Inneren von Joggers Kiste bequem und versuchte energisch wachzubleiben.
Ich schaffte es eine Stunde lang.
Nickte ein.
Schrak plötzlich hoch. Zwei Uhr. Wachtposten, die im Dienst schlafen, können vor ein Militärgericht gestellt werden. Aber gegen den Schlaf ist man machtlos. Wenn das Gehirn abschalten will, schaltet es ab.
Ich sagte mir alte Verse vor. Kinderreime. Eins, zwei, Papagei.
Schlief ein.
Drei Uhr. Vier Uhr. Verpaßte die halbe Nacht mit geschlossenen Augen. Völlig sinnlos. Zeitverschwendung, da zu sitzen.
Als er kam, rasselte und klirrte das Vorhängeschloß an der Kette, und ich war sofort hellwach.
Ich hielt den Atem an und rührte mich nicht.
Lewis’ unverkennbarer kurzer Haarschnitt glitt als Schattenriß zwischen mir und der Hoflampe vorbei. Eine unförmige Tasche in der Hand, ging Lewis unverzüglich zu seinem Transporter, legte sich dort flach auf den Boden und verschwand aus meinem Blickfeld.
Er blieb so lange außer Sicht, daß ich schon dachte, er müsse von mir unbemerkt gegangen sein. Aber dann war er plötzlich wieder da; er richtete sich auf, kehrte mit seiner Tasche zum Tor zurück und sicherte mit einem fast unhörbaren Klicken das Vorhängeschloß.
Stille.
Ich blieb noch eine halbe Stunde sitzen, nicht direkt, weil ich sicher sein wollte, daß er nicht zurückkam, sondern aus Abneigung gegen den nächsten Schritt.
Phobien sind irrational und albern. Phobien sind läh-mend, einengend und nur zu real. Langsam stieg ich aus dem Lieferwagen, nahm die Taschenlampe, versuchte ans Rennreiten — an irgendwas — zu denken und legte mich im Bereich der Dieseltanks neben Lewis’ Transporter auf den Rücken.
Die kalten Sterne oben kümmerte es nicht, daß mir der Schweiß lief und mein Mut auf die Größe einer Nuß zusammenschrumpfte.
Der Transporter würde mich nicht unter sich begraben. Er dachte gar nicht daran.
Himmel Arsch, nun mach schon, sagte ich mir. Sei nicht so unsäglich blöd.
Ich rutschte auf Schultern und Hüften über den Boden und schlängelte mich nach der Seite, bis ich ganz unter den Tonnen von Stahl lag, und natürlich begruben sie mich nicht unter sich, sie hingen bewegungslos und gleichgültig über mir, eine nicht wahrgemachte Drohung. Ich hielt unter den Tanks an, spürte den albernen Schweiß naß auf meinem Gesicht und geriet beinah völlig in Panik, als ich die Hand hob, um mir den Schweiß abzuwischen, und statt dessen auf Metall traf.
Scheiße, dachte ich. Kein Wort war schlimm genug. Ich hatte diesen auf der Rennbahn weithin üblichen Kraftausdruck eher selten im Kopf, aber es gab Augenblicke, da paßte nichts anderes.
Ich hatte mich freiwillig hierhergelegt. Hör verdammt noch mal auf zu zittern, sagte ich mir, und mach voran.
Ja, Freddie.
Ich tastete nach dem runden Ende des Behälters über dem hinteren Tank. Ich schraubte die Kappe ab und legte sie neben mich auf den Boden. Ich knipste die Taschenlampe an und hob den Kopf, um in den Behälter zu schauen.
Meine Haare berührten das Metall. Tonnen von Stahl. Sei still. Meine Hände waren glitschig von Schweiß, ich konnte kaum atmen, und mein Herz klopfte, dabei hatte ich vierzehn Jahre lang unbesorgt viele tausend Male beim Pferderennen meine Haut aufs Spiel gesetzt… es war nichts gegen das hier.
In dem röhrenförmigen Behälter steckte offenbar eine lange, schmale Sperrholzplatte, die nach hinten ins Dunkle ragte. Auf der Platte stand eine rechteckige Plastikdose ähnlich der, die ich nach Schottland mitgenommen hatte, bloß war die hier ohne Deckel.
Krampfhaft umfaßte ich die Taschenlampe und hielt sie in die Röhre, um tiefer hineinsehen zu können.
Die Plastikdose enthielt Wasser.
Kleine Sterne zeigten sich über dem röhrenförmigen Behälter, auf der Unterseite des Fahrgestells. Die Sterne kamen von dem Taschenlampenlicht in der Röhre. Sie zeichneten sich durch Löcher in der Röhre ab.
«Es müßten Luftlöcher in dem Behälter sein«, hatte Guggenheim gesagt.
Da waren Luftlöcher.
Ich schaute direkt in die Röhre, den Kopf fest gegen das Metall über mir gedrückt, die Arme auf beiden Seiten von Metall eingezwängt, die Nerven hoffnungslos zerfranst.
Ganz hinten in der Röhre bewegte sich etwas. Ein Auge glänzte silbern. Das Kaninchen schien sich in seinem Metallbau wohl zu fühlen.
Ich knipste die Taschenlampe aus, schraubte die Kappe auf den Zylinder und schlängelte mich wieder hinaus ins Freie.
Ich lag auf dem harten Boden, beschämt, mit klopfendem Herzen, und sammelte mich. Nichts, dachte ich, wirk-lich gar nichts würde mich dazu bringen, so etwas noch mal zu machen.
Am Morgen sah das Leben auf dem Bauernhof normal aus.
Lewis war wie vorauszusehen verärgert, daß ich ihm Nina statt Dave als Beifahrer zugeteilt hatte.
«Dave ging es am Samstag nicht gut«, sagte ich.»Ich gehe nicht das Risiko ein, daß er sich in Italien die Grippe holt.«
Genau in diesem Moment kam Dave auf seinem quietschenden Fahrrad in Sicht, mitsamt rotem Kopf und Schlafaugen. Die Grippe werde ihn nicht bremsen, sagte er.
«Wird sie doch, so leid es mir tut«, erwiderte ich.»Fahren Sie heim und legen Sie sich ins Bett.«
Nina erschien als die wahre Verkörperung weiblicher Schwäche, kunstvoll gähnend und sich streckend. Lewis betrachtete sie nachdenklich und erhob keine Einwände mehr.
Zusammen holten sie ihre Dokumententaschen bei Isobel ab und gingen den nötigen Papierkram mit ihr durch. Als Lewis zur Toilette ging, waren wir einen Augenblick allein, und ich konnte mich leise mit Nina verständigen.
«Sie haben einen Cousin dabei.«
Mit großen Augen sagte sie:»Woher wissen Sie das?«
«Ich habe gesehen, wie er gebracht wurde.«
«Wann?«
«Heute früh um fünf. So ungefähr.«
«Deshalb also.«
Lewis tauchte wieder auf und sagte, wenn sie die Fähre erreichen wollten, würden sie sich besser auf den Weg machen.
«Rufen Sie hier an«, sagte ich.