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4:42 Uhr.

Im Traum war er mit Charlie am Strand von Pierce gewesen.

(Komisch, als er Vinnie Mason diesen kurzen Abriß seiner Autobiographie gegeben hatte, hatte er Charlie dabei einfach ausgelassen. Das ist doch komisch, nicht wahr, Fred?

Nein, ich finde das gar nicht komisch, George. Ich auch nicht, Fred. Aber es ist spät. Oder, besser gesagt, es ist früh.)

Er war mit Charlie an dem langen weißen Strand gewesen, und sie hatten sich einen herrlichen Tag dafür ausgesucht - ein strahlend blauer Himmel, und die Sonne hatte wie einer dieser idiotischen SmiJey-Burtons auf sie heruntergelächelt. Die Leute hatten auf bunten Decken gelegen und sich von ebenso bunten Sonnenschirmen beschatten lassen.

Kleine Kinder waren mit ihren Plastikeimern durch die Brandung getrippelt. Auf einem vom Wasser ausgebleich-ten Holzturm hatte ein Rettungsschwimmer gesessen. Seine Haut war von der Sonne tief gebräunt, und seine Geschlechtsteile wurden von der knapp sitzenden weißen Badehose dermaßen betont, als wäre ihre Größe eine notwendige Voraussetzung für seine Aufgabe. Selbstsicher hatte er vor ihnen posiert, als wolle er jedermann wissen lassen, daß ihm nichts passieren könne, solange er da sei. Ein Transistorradio hatte geplärrt, und er konnte sich sogar jetzt noch an die Rock ‘n’ Roll-Melodie erinnern:

Aber ich mag das schmutzige Wasser,

Ohhh, Boston, du bist meine Heimat.

Zwei Mädchen waren in ihren Bikinis vorbeigeschlendert.

Sie schienen sich in ihren hübschen, frühreifen Körpern, die nie für ihn, sondern immer nur für ihre imaginären Freunde bestimmt waren, wohl und sicher zu fühlen. Beim Vorbeigehen wirbelten sie mit ihren Zehen den feinen Sand auf.

Es war ganz seltsam, Fred, denn die Flut kam. Aber in Pierce gibt es keine Flut, denn der Ozean ist über neunhundert Meilen weit entfernt.

Er baute mit Charlie zusammen eine Sandburg. Aber sie hatten zu nahe an der Brandung mit ihrem Bau angefangen, und die Flutwellen kamen näher und näher.

Wir müssen die Burg nach hinten versetzen, Dad, hatte Charlie gesagt, aber er war stur geblieben und hatte weitergebaut. Als das Wasser den ersten Burgwall erreicht hatte, grub er mit den Fingern eine Mulde und spaltete den nassen Sand wie die Scheide einer Frau. Das Wasser stieg immer höher.

Verdammt noch mal! brüllte er das Wasser an.

Und dann baute er den Wall neu auf. Eine Welle zerstörte ihn wieder. Die Leute um ihn herum fingen an zu schreien.

Einige rannten aufgeregt hin und her. Der scharfe Pfiff des Rettungsschwimmers zerschnitt die Luft wie ein silberner Pfeil. Er mußte die Burg retten. Aber das Wasser war nicht aufzuhalten, es umspülte seine Knöchel, brach einen Turm ein, dann das Dach, die Rückwand der Burg, schließlich fiel alles in sich zusammen. Als die letzte Welle zurückschwappte, ließ sie nur noch den blanken Sand zurück, flach und glatt, braun und schimmernd.

Er hörte noch mehr Schreie. Jemand weinte. Er blickte auf und sah, wie der Rettungsschwimmer Charlie von Mund zu Mund beatmete. Charlies Körper war naß und bleich bis auf seine Lippen und Augenlider. Die waren blau. Sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr. Der Rettungsschwimmer gab seine Versuche auf. Er blickte zu ihm auf. Er lächelte.

Er hat bis über den Kopf im Wasser gestanden, sagte der Rettungsschwimmer lächelnd. Wäre es nicht an der Zeit gewesen, daß Sie sich um ihn gekümmert hätten?

Er schrie: Charlie!, und dann war er aufgewacht und hatte Angst gehabt, daß er vielleicht wirklich geschrien hätte.

Lange Zeit lag er im Dunkeln, lauschte auf das Klicken der Digitaluhr und versuchte, nicht an den Traum zu denken.

Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Erst als er den Truthahn entdeckte, der auf einem Teller taute, fiel ihm wieder ein, daß heute Thanksgiving war und daß die Wäscherei geschlossen hatte. Er trank seine Milch im Stehen und betrachtete den ausgenommenen Truthahn nachdenklich. Seine Hautfarbe war ebenso bleich wie die Haut seines Sohnes vorhin im Traum. Aber Charlie war ja gar nicht ertrunken. Natürlich nicht.

Als er sich wieder ins Bett legte, murmelte Mary etwas, das er wegen ihrer schlaftrunkenen Stimme nicht verstand.

»Es ist nichts«, sagte er. »Schlaf weiter.«

Sie murmelte noch etwas.

»Schon gut«, sagte er in die Dunkelheit.

Sie schlief wieder ein.

Klick.

Es war jetzt fünf Uhr. Als er endlich einschlief, hatte die Morgendämmerung sich wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen. Sein letzter Gedanke drehte sich um den Truthahn, der unter dem kalten Neonlicht auf dem Küchentisch lag und gedankenlos darauf wartete, daß man ihn verzehrte.

23. November 1973

Um fünf vor acht fuhr er seinen zwei Jahre alten LTD Stephan Ordners Auffahrt hinauf und parkte ihn hinter dessen flaschengrünem Delta 88. Das Haus war ein großzügig angelegtes Natursteingebäude, in gebührendem Abstand vom Hen-reid Drive. Es lag teilweise hinter einer hohen Ligusterhecke versteckt, von der allerdings jetzt, Ende Herbst, nur noch das Skelett übriggblieben war. Er war schon öfter hier gewesen und kannte sich drinnen ganz gut aus. Im Erdgeschoß befand sich ein riesiger, aus Feldsteinen gemauerter Kamin, und in den Schlafzimmern im Obergeschoß waren ein paar bescheidenere Feuerstellen, die alle funktionierten. Im Keller stand ein Brunswick-Billardtisch, und im Nebenraum hing eine große Leinwand für Steves Amateurfilme. Die Stereoanlage hatte er im letzten Jahr auf Quadrophonie ausbauen lassen.

Fotos von Ordners Basketballteam aus seiner Collegezeit schmückten die Wände - er war einen Meter sechsundneunzig groß und hielt sich gut in Form. Wenn er durch die Türen ging, mußte Ordner den Kopf einziehen, und vermutlich war er insgeheim stolz darauf. Vielleicht hatte er sogar die Türrahmen absichtlich niedriger machen lassen, damit er sich ducken mußte. Der Eßzimmertisch bestand aus einer gut zwei Meter achtzig langen, auf Hochglanz polierten Eichenplatte. Dazu passend eine wurmstichige Eichenkommöde, deren Oberfläche aufgrund von sechs oder acht Lackschich-ten strahlend glänzte. Am anderen Ende des Eßzimmers stand ein hoher Geschirrschrank, der - was meinst du, Fred? - gut zwei Meter hoch war. Ja, kommt ungefähr hin. Im Garten war ein Grill installiert, auf dem man gut und gerne einen unzerteilen Dinosaurier garen konnte. Und natürlich war da ein kleiner Golfplatz. Allerdings kein nierenförmiger Swimmingpool. Nierenförmige Swimmingspools galten mittlerweile als unmodern und waren ausschließlich der den Sonnengott Ra anbetenden Mittelklasse Kaliforniens vorbehalten. Die Ordners hatten keine Kinder, aber sie unterstützten ein koreanisches und ein südvietnamesisches Kind und be-zahlten einem Studenten aus Uganda die Collegeausbildung als Elektroningenieur, so daß er in sein Heimatland zurückgehen und dort Elektrizitätswerke bauen konnte. Sie waren Demokraten, und sie waren es wegen Nixon.

Er ging über den Plattenweg zur Haustür und läutete. Das Dienstmädchen öffnete ihm.

»Mr. Dawes«, stellte er sich vor.

»Ja, natürlich, Sir. Geben Sie mir bitte Ihren Mantel, Mr. Ordner ist in seinem Arbeitszimmer.«

»Danke.«

Er gab ihr seinen Mantel und ging an der Küche und dem Eßzimmer vorbei durch die Halle. Unterwegs warf er schnell einen Blick auf den riesigen Eßtisch und die Stephan-Ordner-Gedenkkommode. Der Teppich, mit dem die Eingangshalle ausgelegt war, endete vor dem Flur, und seine Schritte hallten jetzt auf dem schwarzweißen, gebohnerten Linoleumbelag wider.