Er kannte seine Nachbarn - warum auch nicht? Mary und er hatten über vierzehn Jahre in der Crestallen Street gewohnt. Das war eine lange Zeit. Die Upslingers in dem Haus neben ihnen; ihr Sohn Kenny hatte die Zeitung ausgetragen.
Die Längs auf der gegenüberliegenden Straßenseite; die Hobarts, die zwei Häuser weiter wohnten (Linda Hobart war Charlies Babysitter gewesen, jetzt studierte sie Medizin im City College); die Stauffers; Hank Albert, dessen Frau vor vier Jahren an einem Lungenemphysem gestorben war; die Darbys und nur vier Häuser entfernt von der Stelle, an der er jetzt saß und zitterte, die Quinns. Und noch ein Dutzend weitere Familien, die Mary und er auf der Straße grüßten - meistens Familien mit kleinen Kindern.
Eine nette Straße, Fred. Und nette Nachbarn. Oh, ich weiß, wie sehr die Intellektuellen diese Vorstädte verhöhnen - es ist hier nicht so romantisch wie in den von Ratten verseuch-ten Altbauwohnungen und nicht so gesund wie auf dem Lande. Aber was soll dieses Zurück-zur-Natur-Zeug? In der Vorstadt gibt es keine großen Museen, keine großen Wälder, keine Herausforderung.
Aber wir haben hier schöne Zeiten erlebt. Ich weiß, was du denkst, Fred, was sind schon schöne Zeiten? Sie beinhalten keine großen Freuden, keine außergewöhnlichen Leiden, einfach so die kleinen Dinge. Grillpartys in der sommerlichen Abenddämmerung, jeder ein bißchen high, aber keiner wirklich betrunken oder ausfällig. Fahrgemeinschaften, um sich das Spiel der Mustangs anzusehen. Diese dämlichen Musties, die es nicht einmal geschafft haben, die Pats zu schlagen, als die am schwächsten waren. Leute aus der Nachbarschaft zum Abendessen einladen oder selber eingeladen werden. Golf spielen drüben auf dem Westside-Golfplatz oder die Frauen in den Wagen packen und mit ihnen nach Ponderos-Pines fahren, um dort Wettrennen mit den kleinen Go-Karts zu veranstalten. Erinnerst du dich noch, wie Bill Stauffer mit seinem Go-Kart direkt durch den Absperrzaun gedüst und beim Nachbarn in den Swimmingpool gefallen ist? Ja, ich erinnere mich, George, wir haben uns vor Lachen alle die Hosen naß gemacht. Aber, George …
Also her mit den Bulldozern, Fred. Sollen sie das alles begraben. Bald, sehr bald, wird es eine neue Vorstadt geben, drüben in Waterford, wo bisher nur leeres, ödes Bauland zu finden ist. Der Lauf der Zeit. Fortschritt im Rückwärtsgang.
Milliarden-Dollar-Projekte. Was findet man also, wenn man’ mal rüberfährt und sich die Sache anschaut? Einen Haufen Kräckerschachteln, die alle mit verschiedenen Farben angemalt sind. Plastikrohre, die jeden Winter einfrieren. Plastikholz. Alles aus Plastik. Und das nur, weil Moe vom Straßenbauausschuß mit Joe von Joes Tiefbaufirma gesprochen hat, und Sue, die in Joes Vorzimmer arbeitet, hat es Lou von Lous Tiefbaufirma erzählt, und nun geht der große Waterford-Bauboom los. Bald werden auf dem Ödland große Wohnanlagen entstehen, Hochhäuser werden sich auftürmen und riesige Einkaufszentren die Gegend verschandeln. Du kriegst ein Haus an der Lilac Lane, die sich im Norden mit der Spain Lane und im Süden mit der Dain Lane kreuzt. Aber du kannst dir auch die Ulmenstraße, die Eichenstraße, die Zypressenstraße oder die Pinienstraße aussuchen. Jedes Haus hat unten ein großes Badezimmer und ein kleines Bad im ersten Stock. Und natürlich gibt es an jeder Ostseite einen falschen Kamin. Wenn du abends betrunken heimkommst, kannst du nicht mal dein eigenes verdammtes Haus wiederfinden.
Aber, George …
Sei still, Fred, jetzt rede ich. Und wo sind deine Nachbarn geblieben? Vielleicht war gar nicht soviel mit ihnen los, diesen Nachbarn, aber du wußtest wenigstens, wer sie waren.
Du wußtest, bei wem du dir eine Tasse Zucker ausleihen konntest, wenn deiner mal ausgegangen war. Wo sind sie nun? Tony und Alicia Lang sind nach Minnesota gezogen, weil er eine Versetzung beantragt und auch bekommen hat.
Die Hobarts sind nach Northside gezogen. Hank Albert hat ein neues Haus in Waterford gekriegt, das ist richtig, aber als er von der Vertragsunterzeichnung zurückkam, sah er aus, als hätte er sich eine fröhliche Maske aufgesetzt. Ich konnte es in seinen Augen sehen, Fred. Er wirkte wie ein Mann, dem man beide Beine abgeschnitten hat und der jetzt jedem vormacht, wie sehr er sich auf seine neuen Plastikbeine freut, weil die keine blauen Flecke mehr kriegen, wenn er sich irgendwo anstößt. Wir ziehen also um, und wo sind wir dann? Was sind wir dann? Zwei Fremde in einem fremden Haus inmitten von fremden Häusern. Genau das werden wir sein. Der Lauf der Zeit, Freddy. So ist das. Vierzig Jahre alt, warten auf die Fünfziger, warten auf die Sechziger. Warten auf ein nettes, sauberes Krankenhausbett und eine nette, saubere Krankenschwester, die einen netten, sauberen Katheter bei dir anbringt. Vierzig ist das Ende der Jugend, Freddy. Na ja, eigentlich ist dreißig das Ende der Jugend, aber mit vierzig hörst du auf, dir selber etwas vorzumachen. Ich will nicht in einem fremden Haus alt werden.
Er hatte wieder angefangen zu weinen. Er saß in seinem dunklen, kalten Wagen und weinte wie ein kleines Kind.
George, es ist doch mehr als nur die Autobahn, mehr als dieser Umzug. Ich weiß, was dir fehlt.
Halt die Klappe, Fred, ich warne dich.
Aber Fred wollte nicht mehr schweigen, und das war schlecht. Wenn er Freddy nicht mehr unter Kontrolle hatte, wie sollte er denn jemals Ruhe finden?
Es geht um Charlie, nicht wahr, George? Du willst ihn nicht noch ein zweites Mal beerdigen.
»Ja, es geht um Charlie«, sagte er laut, mit tränenerstickter Stimme. »Und es geht um mich. Ich kann nicht. Wirklich, ich kann nicht …«
Er senkte den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Sein Gesicht verzerrte sich, und er preßte beide Fäuste auf die Äugen wie ein kleiner Junge, der durch ein Loch in seiner Hosentasche seinen Bonbongroschen verloren hatte.
Als er endlich weiterfuhr, fühlte er sich völlig erledigt. Ausgetrocknet. Leer, hohl und vollkommen ruhig. Er konnte sogar die dunklen Häuser am Straßenrand betrachten, aus denen die Leute schon ohne großes Geschrei ausgezogen waren.
Wir wohnen jetzt auf einem Friedhof, dachte er. Mary und ich, wir leben auf einem Friedhof. Genau wie Richard Boone in / Bury the Living. Bei den Arlins brannte noch Licht, aber sie würden am fünften Dezember ausziehen. Die Hobarts waren am letzten Wochenende weggegangen. Leere Häuser.
Als er seine eigene Auffahrt hinauffuhr (Mary war schon oben im Schlafzimmer, er sah den schwachen Schein ihrer Leselampe), mußte er plötzlich an etwas denken, das Tom Granger vor ein paar Wochen zu ihm gesagt hatte. Er würde mit Tom darüber reden. Am Montag.
25. November 1973
Er saß vor dem neuen Farbfernseher und sah sich das Spiel Mustangs gegen Chargers an. Er hatte sich dazu seinen Privatdrink gemixt, Southern Comfort mit Seven-Up. Privatdrink deshalb, weil die Leute ihn auslachten, wenn er ihn in der Öffentlichkeit trank. Die Chargers hatten einen Vor-sprung von 27 zu 3 im dritten Viertel. Rucker war dreimal abgefangen worden. Tolles Spiel, was Fred? Kann man wohl sagen, George, ich versteh’ gar nicht, wie du die Spannung aushältst.
Mary war oben und schlief. Übers Wochenende war es wieder wärmer geworden, und draußen fiel ein leichter Nieselregen. Er fühlte sich ebenfalls schläfrig. Er hatte schon drei Drinks gehabt.
Während der Spielpause zeigten sie einen Werbespot. Bud Wilkenson stand vor der Kamera und erzählte, daß die Energiekrise wirklich ein Unglück sei und daß jeder sein Dach ab-dichten, den Dachboden isolieren und die Luftklappe im Kamin immer geschlossen halten sollte, wenn er nicht gerade Marshmallows röstete oder Hexen verbrannte oder so was.