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»Wofür steht das G?« erkundigte Magliore sich.

»George.«

Er öffnete die Brieftasche und breitete den Inhalt wie ein Pokerblatt vor sich aus.

Dreiundvierzig Dollar in zwei Zwanziger-und drei Eindollarscheinen.

Kreditkarten: Shell, Sunoco, Arco, Grant’s, Sears, Carey’s Department Store, American Express.

Führerschein, Sozialversicherungskarte, Blutspenderpaß, Blutgruppe A-positiv. Bibliotheksausweis. Einige Fotos in einer Plastikhülle, eine Fotokopie seiner Geburtsurkunde, einige alte Quittungen, die an den Rändern schon ganz ausge-franst waren, und ein paar alte Kontoauszüge, von denen einige noch bis in den Juni zurückdatierten.

»Mann, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Magliore gereizt. »Misten Sie das Ding niemals aus? Es tut einer Brieftasche nicht gut, wenn man sie so vollstopft und dann das ganze Jahr mit sich herumschleppt.«

Er zuckte die Achseln. »Ich mag eben nichts wegwerfen.«

Er fand es seltsam, daß er sich fürchterlich über Magliores Beschimpfungen geärgert hatte, daß ihm aber seine Kritik an seiner Brieftasche überhaupt nichts ausmachte.

Magliore sah sich die Fotos in der Plastikhülle an. Das erste zeigte eine schielende Mary, die der Kamera die Zunge entgegenstreckte. Ein altes Bild, sie war damals noch schlanker gewesen.

»Ihre Frau?«

»Ja.«

»Sieht bestimmt ganz nett aus, wenn sie nicht gerade vor der Kamera steht.«

Er nahm das nächste und lächelte.

»Ihr kleiner Sohn? Meiner ist auch gerade in dem Alter. Trifft er schon einen Baseball? Zack, Zack, ich glaube, er kann’s schon.«

»Ja, das war mein Sohn. Er ist tot.«

»Oh, wie schade. Ein Unfall?«

»Gehirntumor.«

Magliore nickte und betrachtete die restlichen Fotos. Winzige Ausschnitte aus seinem Leben: das Haus in der Crestallen Street; Tom Granger und er im Waschraum; er selbst auf dem Podium bei der Versammlung der Wäschereibesitzer, die in diesem Jahr in ihrer Stadt stattgefunden hatte (er hatte den Hauptredner vorgestellt); eine Grillparty im Garten hinterm Haus, er mit einer hohen Chefkochmütze und einer Schürze, auf der stand: VATI KOCHT UND MAMMI GUCKT ZU.

Magliore legte die Fotos weg, stapelte die Kreditkarten zu einem Haufen und reichte sie Mansey hinüber. »Laß sie fotokopieren«, sagte er. »Und nimm auch ein paar von den Kontoauszügen mit. Seine Frau hält das Scheckbuch sicher genauso hinter Schloß und Riegel wie meine.« Er lachte.

Mansey warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Wollen Sie vielleicht mit dem kleinen Schnüffler Geschäfte machen?«

»Nenn ihn nicht wieder Schnüffler, vielleicht sagt er dann auch nicht mehr Knallkopf zu mir.« Er brach in wieherndes Gelächter aus, das jedoch abrupt aufhörte. »Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Pete, und überlaß mir meine.«

Mansey lachte zwar, aber er verließ das Büro mit stolzierenden Schritten.

Als die Tür hinter ihm zufiel, sah Magliore ihn aufmerksam an. Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Knallkopf«, sagte er nochmals. »Und ich dachte, man hätte mich schon alles genannt.«

»Warum soll er meine Kreditkarten kopieren?«

»Wir besitzen einen Anteil an einem Computer. Er gehört niemandem ganz. Jeder kann ihn zeitweise benutzen. Wenn man den richtigen Code kennt, kann man die Bankcomputer und die Computer von über fünfzig Firmen anzapfen, die in dieser Stadt ihr Geschäft betreiben. Ich werde Sie überprü-

fen. Wir finden es sofort heraus, wenn Sie ein Bulle sind. Wir finden auch heraus, ob Ihre Kreditkarten echt sind. Wir können sogar feststellen, ob die Karten echt sind, aber nicht Ihnen gehören. Aber Sie haben mich eigentlich schon überzeugt. Ich glaube, Sie sind in Ordnung. Knallkopf.« Er schüttelte wieder den Kopf und lachte. »Was hatten wir gestern?

Montag? Mister, Sie können von Glück sagen, daß Sie mich nicht an einem Montag Knallkopf genannt haben.«

»Darf ich Ihnen jetzt sagen, warum ich eigentlich hergekommen bin?«

»Sie dürften, selbst wenn Sie ein Bulle mit sechs Kassettenrecordern wären, dürften Sie, denn Sie könnten mir doch nichts anhaben. So was nennt man die Fallenstellerszene, nicht wahr? Aber ich will jetzt nichts davon hören. Kommen Sie morgen wieder - dieselbe Zeit, derselbe Ort -, und ich sage Ihnen dann, ob ich Sie anhören werde. Selbst wenn Sie in Ordnung sein sollten, werde ich Ihnen vielleicht nichts verkaufen. Und wissen Sie, warum?«

»Warum?«

Magliore lachte. »Weil ich Sie für einen Spinner halte. Sie fahren auf drei Rädern. Sie fliegen im Blindflug.«

»Warum? Weil ich Sie Knallkopp genannt habe?«

»Nein«, antwortete Magliore. »Aber Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir passiert ist, als ich so alt war wie mein Sohn heute. In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es einen Hund in der Nachbarschaft, Hell’s Kitchen in New York. Noch vor dem zweiten Weltkrieg während der Depression. Dort wohnte auch ein Mann namens Piazzi, und der hatte eine schwarze Hündin, eine Promenadenmischung, die er Andrea nannte. Aber jeder hat sie einfach nur Mr. Piazzis Hund genannt. Er hielt sie die ganze Zeit an der Kette, aber sie wurde niemals böse. Nicht bis zu diesem bestimmten Tag, ein heißer Tag im August. Könnte 1937 gewesen sein. Sie sprang einen kleinen Jungen an, der sie streicheln wollte; er mußte für einen ganzen Monat ins Krankenhaus. Sein Hals mußte mit siebenunddreißig Stichen genäht werden. Und ich hatte gewußt, daß das irgendwann einmal passieren würde. Dieser Hund stand den ganzen Tag lang in der Sonne und das jeden Tag, den ganzen Sommer lang. So um Mitte Juni rum hörte er auf, mit dem Schwanz zu wedeln, wenn die Kinder ihn streichelten. Dann fing er an, die Augen zu verdrehen. Ab Ende Juli knurrte er ganz tief hinten in der Kehle, wenn jemand sich ihm näherte. Als er damit anfing, hab’ ich aufgehört, ihn zu streicheln. Die Leute haben gleich gefragt: ›Was ist los mit dir, Sal? Hast du etwa Schiß?‹ Und ich hab’ gesagt: ›Nee, ich hab’ keinen Schiß, aber ich bin auch nicht blöd. Der Hund da ist böse gewordene Aber alle be-haupteten: ›Stell dich nicht an, Sal. Mr. Piazzis Hund beißt nicht, der hat noch nie jemanden gebissen. Er würde nicht mal einem Baby etwas tun, das den Kopf in seinen Rachen steckt.‹ Und ich hab’ gesagt: ›Streichelt ihn ruhig weiter, es gibt kein Gesetz, das das Streicheln von Hunden verbietet, aber ich werde es nicht tun.‹ Na, und dann sind sie herumgelaufen und haben überall erzählt: ›Sally ist ein Angsthase. Sally ist feige. Sally klammert sich an den Rockzipfel seiner Mutter, wenn er an Mr. Piazzis Hund vorbeigehen muß.‹ Sie wissen ja, wie Kinder sind.«

»Ich weiß«, sagte er. Mansey war mit seinen Kreditkarten zurückgekommen und an der Tür stehengeblieben, um zuzuhören.

»Der Junge, der am lautesten gebrüllt hat, den hat’s dann schließlich erwischt. Luigi Bronticelli hat er geheißen. Ein kleiner Jude, genau wie ich.« Magliore lachte. »An einem Tag im August, es war so heiß, daß man ein Spiegelei auf dem Bürgersteig braten konnte, ist er zu Mr. Piazzis Hund gegangen und hat ihn gestreichelt. Und seitdem kann er nur noch flüstern. Er hat jetzt ein Herrenfriseurgeschäft in Manhattan, und alle Leute nennen ihn bloß noch den flüsternden Luigi.«

Magliore lächelte ihm zu.

»Sie erinnern mich an Mr. Piazzis Hund. Sie knurren zwar noch nicht, aber wenn jemand Sie streicheln will, verdrehen Sie die Augen. Und Sie haben schon vor langer Zeit aufgehört, mit dem Schwanz zu wedeln. Pete, gib ihm seine Sachen zurück!«

Mansey reichte ihm den Stapel herüber.

»Kommen Sie morgen wieder, und dann werden wir uns weiter unterhalten«, sagte Magliore und sah ihm dabei zu, wie er seine Habseligkeiten wieder in der Brieftasche verstaute. »Sie sollten wirklich mal Ihre Brieftasche ausmisten. Sie ruinieren sie ja sonst völlig.«

»Ja, vielleicht tue ich das«, antwortete er.