»Pete, bring ihn zu seinem Wagen!«
»Klar.«
Er war schon durch die Tür getreten, als Magliore ihm plötzlich nachrief: »Wissen Sie auch, was mit Mr. Piazzis Hund passiert ist, Mister? Man hat ihn vergast.«
Nach dem Abendessen, als John Chancellor ihnen klarmachte, daß die Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem Jersey Turnpike vermutlich das Sinken der Unfallrate bewirkt habe, fragte Mary ihn nach dem Haus.
»Termiten«, antwortete er kurz angebunden.
Ihr Gesicht verdüsterte sich schlagartig. »Oh, das ist nicht so gut, wie?«
»Ich fahre morgen noch mal raus. Tom Granger kennt einen guten Kammerjäger, den ich mitnehmen werde. Ich will mir seine Expertenmeinung anhören. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, wie es aussieht.«
»Ich hoffe es sehr. Ein Garten und all das …« Sie verlor sich in ihre Wunschträume.
Na, du bist mir ja ein feiner Kerl, sagte Freddy plötzlich.
Ein veritabler Prinz. Wie kommt es nur, daß du so gut zu deiner Frau bist, George? Bist du ein Naturtalent oder hast du das irgendwo gelernt?
»Hält’s Maul!« sagte er.
Mary sah verblüfft auf. »Was?«
»Oh … dieser Chancellor«, antwortete er schnell. »Ich hab’ langsam die Nase voll von all diesen Beschwörungen und Drohungen von diesem Chancellor und Walter Cronkite und wie sie alle heißen.«
»Du solltest den Boten nicht wegen seiner Botschaft hassen«, sagte sie und warf einen zweifelnden, verwirrten Blick auf John Chancellor.
»Das sollte ich wohl nicht«, sagte er und dachte: Freddy, du bist ein Scheißkerl.
Freddy sagte ihm, daß er den Boten nicht wegen seiner Botschaft hassen solle.
Einen Augenblick sahen sie sich schweigend die Nachrichten an. Dann eine Reklame für eine Medizin gegen Erkältungen. Zwei Männer, deren Köpfe in zwei grüne Klötze aus Rotz eingefroren waren. Als einer von beiden die bestimmte Pille nahm, schmolz der grüne Klotz dahin.
»Deine Erkältung scheint heute abend schon besser zu sein«, bemerkte er.
»Ja. Bart, wie heißt eigentlich der Makler?«
»Monohan«, antwortete er automatisch.
»Nein, nicht der, der dir die Fabrik verkauft. Ich meine den von unserem Haus.«
»Olson«, sagte er prompt, den Namen aus seinem geistigen Mülleimer kramend.
Die Nachrichten gingen weiter. Es folgte ein Bericht über David Ben Gurion, der wohl bald mit Harry Truman im großen Sekretariat im Himmel zusammentreffen würde.
»Wie gefällt es Jack da draußen?« fragte sie beiläufig.
Er wollte ihr sagen, daß es Jack ganz und gar nicht gefiele, aber er hörte sich selber sagen: »Ich glaube, er findet es ganz in Ordnung.«
John Chancellor schloß mit einer Nachricht über fliegende Untertassen, die jemand in Ohio gesehen haben wollte.
Er ging um halb elf ins Bett. Der Alptraum mußte ihn gleich nach dem Einschlafen überfallen haben. Als er aufwachte, zeigte die Digitaluhr
23.22 Uhr.
Im Traum war er in Norton an einer Straßenecke gewesen - die Ecke Venner und Rice Street. Er hatte direkt unter dem Straßenschild gestanden. Etwas weiter die Straße runter hatte ein großer pinkfarbener Wagen mit einem Karibugeweih auf der Motorhaube vor einem Süßwarengeschäft gehalten. Die Kinder waren von den Hausterrassen und Veran-den heruntergesprungen und auf ihn zugerannt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein großer, schwarzer Hund am Verandagelände eines Wohnhauses festgebunden. Ein kleiner Junge ging zutraulich auf ihn zu.
Er wollte laut schreien: Streichet den Hund nicht! Geh und hol dir deine Bonbons! Aber er brachte keinen Ton heraus. Wie in einer Zeitlupenbewegung hatte der protzige Schwarze in seinem weißen Anzug und mit seinem weißen Pflanzerhut sich nach ihm umgedreht. Er hatte beide Hände voller Bonbons.
Auch die Kinder, die ihn umringten, drehten sich langsam nach ihm um. Die Kinder bei dem Mann waren alle schwarz.
Nur der kleine Junge, der auf den Hund zuging, war ein Weißer.
Der Hund sprang ihn an. Er katapultierte sich auf seinen großen Hinterbeinen hoch wie ein stumpfer Pfeil. Der Junge schrie und stolperte zurück. Er hatte sich mit beiden Händen an den Hals gefaßt. Das Blut floß zwischen seinen Fingern hindurch. Als er sich umdrehte, erkannte er, daß es Charlie war.
Dann war er aufgewacht.
Diese Träume. Diese gottverdammten Träume.
Sein Sohn war schon seit drei Jahren tot.
28. November 1973
Als er aufstand, schneite es, aber als er in der Wäscherei ankam, hatte es fast schon wieder aufgehört. Tom Granger kam ihm in Hemdsärmeln entgegengerannt. Sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen in der kalten Luft. Er konnte schon an Toms Gesichtsausdruck ablesen, daß es ein mieser Tag werden würde.
»Wir haben Schwierigkeiten, Bart.«
»Schlimm?«
»Schlimm genug. Johnny Walker hatte heute auf seiner ersten Tour zum Holiday Inn einen Unfall. Ein Kerl in einem Ponn’ac hat an der Deakman Street das Rotlicht überfahren.
Er hat ihn direkt in der Seite erwischt. Bang!« Er schwieg und blickte hilflos zum Eingang der Wäscherei zurück, aber da stand niemand. »Die Bullen haben gesagt, Johnny ginge es sehr schlecht.«
»Heiliger Bimbam.«
»Ich bin zwanzig Minuten, nachdem es passiert war, rausgefahren. Du kennst die Kreuzung ja …«
»Ja, sie ist ziemlich gemein.«
Tom schüttelte den Kopf. »Wenn es nicht so verdammt schrecklich wäre, könnte man fast darüber lachen. Sieht aus, als hätte bei einer Waschfrau eine Bombe eingeschlagen.
Überall liegen Handtücher und Bettwäsche vom Holiday Inn rum. Einige Leute haben sich gleich welche gestohlen, diese Arschlöcher. Man möchte kaum glauben, daß die Leute so was tun. Und der Lieferwagen … Bart, von der Fahrertür an ist nicht mehr viel von ihm übrig. Alles schrottreif. Johnny wurde rausgeschleudert.«
»Ist er im Zentralkrankenhaus?«
»Nein, im St. Mary’s. Johnny ist katholisch, wußtest du das nicht?«
»Willst du mit mir rüberfahren?«
»Lieber nicht. Ron brüllt schon den ganzen Morgen, daß der Boiler nicht genug Druck hat.« Er zuckte verlegen die Achseln. »Du kennst Ron ja. Die Show muß weitergehen.«
»Schon in Ordnung.«
Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zum St. Marys-Krankenhaus. Verdammt noch mal, warum mußte das von allen Leuten auf der Welt ausgerechnet Johnny Walker passieren? Außer ihm war er der einzige, der schon seit 1953 in der Wäscherei arbeitete - Johnny hatte sogar schon 1946 dort angefangen. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Es kam ihm vor wie ein schlimmes Omen. Aus der Zeitung wußte er, daß der Ausbau der 784-Autobahn gerade die gefährliche Deakman-Kreuzung ziemlich überflüssig machen würde.
Er hieß eigentlich gar nicht Johnny. Sein richtiger Name lautete Corey Everett Walker, er hatte ihn oft genug auf den Stechkarten gelesen, um das zu wissen. Aber schon seit zwanzig Jahren nannten sie ihn alle Johnny. Seine Frau war 1956 auf einer Reise nach Vermont gestorben. Seitdem lebte er mit seinem Bruder zusammen, der einen Lastwagen für die städtische Müllabfuhr fuhr. In der Wäscherei gab es Dutzende von Mitarbeitern, die Ron hinter seinem Rücken ›Stoneballs‹ [Schnapsnase. - Anm. d. Übers.] nannten, aber Johnny war der einzige, der es gewagt hatte, es ihm offen ins Gesicht zu sagen, und es war ihm nichts passiert.
Er dachte: Wenn Johnny stirbt, dann bin ich der dienstälteste Mitarbeiter in der Wäscherei. Der einzige, der den Rekord von über zwanzig Jahren gebrochen hat. Na, ist das nicht ein Witz, Freddy?
Freddy fand das gar nicht lustig.
Im Wartezimmer der Unfallstation saß Johnnys Bruder, ein großgewachsener Mann, dessen Gesichtszüge Ähnlichkeit mit Johnny hatten. Sie hatten die gleichen hohen Wangenknochen. Er trug einen olivgrünen Overall und darüber eine dicke schwarze Stoffjacke. In den Händen, die hilflos zwischen seinen Knien hingen, drehte er eine olivgrüne Schirmmütze hin und her. Er blickte vor sich auf den Boden, aber als er Schritte hörte, sah er neugierig auf.