Выбрать главу

Sie setzte sich auf. »Das stimmt, ich habe Soziologie studiert. Eine Zeitlang jedenfalls. Aber von der Hundedressurethik habe ich nie etwas gehört.«

»Weil ich sie selbst erfunden habe.«

»Ach so, ein Aprilscherz.« Entrüstung. Sie rutschte in ihren Sitz zurück und zog die Mütze wieder über die Augen.

»Die Hundedressurethik, die Barton George Dawes Ende 1973 entwickelt hat, liefert uns eine vollständige Erklärung für solch mysteriöse Dinge wie die Finanzkrise, die Inflation, den Vietnamkrieg und die gegenwärtige Energiekrise. Nehmen wir die Energiekrise als Beispiel. Das amerikanische Volk wird dressiert wie Hunde. In diesem Fall wird es darauf dressiert, sich in große, Benzin fressende Fahrzeuge zu verlieben, als da sind Autos, Schneemobile, große Boote, Sandbuggies, Motorräder, Wohnmobile und vieles mehr. Zwischen den Jahren 1973 und 1980 wird das amerikanische Volk allerdings umdressiert, damit es dieses Spielzeug in Zukunft verachtet. Das amerikanische Volk liebt es geradezu, auf diese Art erzogen zu werden. Es wedelt mit dem Schwanz. Verbrauche möglichst viel Energie. Verbrauche überhaupt keine Energie. Geh und pinkel auf die Zeitung. Ich habe nichts dagegen, Energie zu sparen, aber ich bin gegen diese Dressur.«

Er mußte plötzlich an Mr. Piazzis Hund denken, der zuerst aufgehört hatte, mit dem Schwanz zu wedeln, dann angefangen hatte, mit den Augen zu rollen, und schließlich Luigi Bronticelli an die Kehle gesprungen war.

»Es ist wie bei Pawlows Hunden«, fuhr er fort. »Sie wurden darauf dressiert, beim Klingeln einer Glocke den Speichel laufen zu lassen. Und wir wurden darauf trainiert, daß uns beim Anblick von teuren Wagen oder eines Zenith-Farbfernsehers mit automatischer Antenne der Speichel im Mund zusammenlief. Ich hab’ so einen Fernseher zu Hause. Er hat sogar einen kleinen Telecommander. Man kann bequem in seinem Sessel sitzen bleiben und die Programme wechseln, ihn laut oder leise stellen oder ihn abschalten. Ich hab’ mir das Ding mal in den Mund gesteckt und auf einen der Knöpfe gedrückt, und der Kasten ist tatsächlich angesprungen. Das Signal ist direkt durch mein Gehirn gegangen, und es hat funktioniert. Technik ist doch eine wundervolle Sache.«

»Sie sind verrückt.«

»Ja, das bin ich wohl.« Sie kamen an der Ausfahrt 11 vorbei.

»Ich denke, ich schlafe jetzt weiter. Wecken Sie mich, wenn wir zum Autobahnende kommen.«

»Ist gut.«

Sie verschränkte wieder ihre Arme vor der Brust und schloß die Augen.

Sie kamen an der Ausfahrt 10 vorbei.

»Es ist nicht mal so sehr die Dressur, die mir etwas ausmacht«, redete er weiter. »Aber es macht mich rasend, daß die Dompteure alles geistige, moralische und seelische Idioten sind.«

»Sie versuchen doch nur, mit einer Menge Rhetorik Ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Fahren Sie doch einfach 60, und es wird Ihnen viel besser gehen.«

»Es wird mir nicht besser gehen!« Er spuckte die Worte so heftig aus, daß sie verblüfft auffuhr und ihn anstarrte.

»Fehlt Ihnen was?«

»Nein, mir fehlt nichts. Ich hab’ nur meine Frau und meine Arbeit verloren, weil entweder ich oder die anderen verrückt geworden sind, und jetzt sitze ich hier mit einer Tramperin-einem neunzehnjährigen Kind, verdammt noch mal, eins von der Sorte, das sich daran gewöhnt haben sollte, daß die Welt verrückt geworden ist -, und was will es mir klarmachen? Daß die Welt vollkommen in Ordnung sei. Nicht mehr viel Öl, na ja, aber ansonsten ist alles vollkommen in Ordnung.«

»Ich bin einundzwanzig.«

»Wie schön für Sie«, entgegnete er bitter. »Wenn die Welt wirklich so in Ordnung ist, was suchen Sie dann hier draußen in der Kälte und fahren mitten im Winter nach Las Vegas? Warum wollen Sie die ganze Nacht an der Route 7 verbringen in der Hoffnung, daß jemand Sie mitnimmt? Sie werden Frostbeulen an den Beinen kriegen, weil Sie unter Ihrer Jeans nichts weiter anhaben.«

»Na, hör’n Sie mal, ich habe etwas unter meiner Jeans an.

Wofür halten Sie mich?«

»Ich halte Sie für blöd!« brüllte er. »Sie werden sich den Arsch abfrieren!«

»Und dann werden Sie kein Stück mehr davon abkriegen, nicht wahr?« flötete sie mit süßer Stimme.

»Junge, Junge«, murmelte er kopfschüttelnd.

Sie rasten an einem Sedan vorbei, der stete 60 fuhr. Der Fahrer betätigte die Lichthupe. »Fahr zur Hölle!« schrie er.

»Lassen Sie mich bitte sofort aussteigen!« sagte sie ruhig.

»Vergessen Sie’s. Ich werde schon keinen Unfall bauen.

Schlafen Sie weiter.«

Sie sah ihn lange mißtrauisch an. Dann verschränkte sie wieder die Arme und machte die Augen zu. Sie fuhren an Ausfahrt 9 vorbei.

Um fünf nach vier erreichten sie Ausfahrt 2. Die Schatten auf der Straße waren länger geworden und hatten eine bestimmte blaue Färbung angenommen, die es nur während der Wintermonate zu geben schien. Venus stand schon am Osthimmel. In Stadtnähe wurde der Verkehr dichter.

Er blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie sich aufgerichtet hatte und die auf der Gegenfahrbahn vorbeiflitzenden Wagen betrachtete. Der Wagen direkt vor ihnen hatte einen Weihnachtsbaum auf dem Dach. Die grünen Augen des Mädchens waren jetzt weit aufgerissen, und einen Augenblick versank er in ihnen. Für eine Sekunde überfiel ihn ein Gefühl vollkommenen Mitempfindens, dessen die Menschen nur manchmal, in gnädigen Momenten, fähig sind. Er stellte sich vor, was sie bei all diesen Autos empfinden mußte, die ein warmes Zuhause als Ziel hatten, die irgendwo hinfuhren, wo es Geschäfte zu erledigen oder Freunde zu be-grüßen gab oder wo eine ganz normale Familie auf sie wartete. Er verstand ihre Gleichgültigkeit gegenüber all diesen Fremden. Und einen kurzen, glasklaren Augenblick lang begriff er, was Thomas Carlyle mit der großen, toten Lokomotive Welt gemeint hatte, die weiter und weiter stampfte.

»Sind wir bald da?« fragte sie.

»In fünfzehn Minuten.«

»Hören Sie, wenn ich unhöflich zu Ihnen war …«

»Nein, ich war sehr unhöflich zu Ihnen. Wissen Sie, icfr habe heute abend nichts Bestimmtes vor. Ich fahr’ Sie rüber nach Landy.«

»Nein …«

»Oder ich stecke Sie für die Nacht ins Holiday Inn. Ohne Gegenleistung. Einfach nur fröhliche Weihnachten und so.«

»Leben Sie wirklich von Ihrer Frau getrennt?«

»Ja.«

»Und erst so kurz?«

»Ja.«

»Hat sie die Kinder?«

»Wir haben keine Kinder.« Sie fuhren jetzt auf die Mautstelle zu. Zwei grüne Ampellichter blinkten gleichgültig im Zwielicht.

»Dann nehmen Sie mich mit nach Hause.«

»Sie müssen nicht. Ich meine, Sie müssen nicht …«

»Es war’ mir heute ganz recht, mit jemandem zusammenzusein«, unterbrach sie ihn. »Ich mag nicht gern bei Nacht trampen. Es ist irgendwie unheimlich.«

Er hielt neben dem Schalter und drehte das Fenster herunter. Kalte Luft strömte in den Wagen. Er reichte dem Kassierer seine Karte und einen Dollar neunzig und fuhr langsam weiter. Vor ihnen stand ein großes, reflektierendes Schild:

WIR DANKEN IHNEN FÜRS SICHERE FAHREN!

»In Ordnung«, sagte er vorsichtig. Er wußte, daß es vermutlich nicht richtig war, sie immer wieder zu beruhigen - es würde wahrscheinlich das Gegenteil bewirken -, aber er konnte nicht anders. »Sehen Sie, es ist nur, daß ich mich zu Hause recht einsam fühle. Wir können zusammen essen und uns dann mit Popcorn vor den Fernseher setzen. Sie schlafen oben im Schlafzimmer, und ich werde …«

Sie lachte leise, und er spähte vorsichtig zu ihr hinüber, während er die große Schleife der Ausfahrt hinunterfuhr.

Aber er konnte sie im Dämmerlicht kaum mehr erkennen.

Sie war nur eine dunkle Gestalt. Sie hätte auch ein Traum sein können. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht.