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»Hören Sie, ich sag’s ihnen lieber gleich«, begann sie. »Erinnern Sie sich an den betrunkenen Kerl, von dem ich erzählt habe? Ich hab’ mit ihm die Nacht zusammen verbracht. Er hat mich bis Stilson gebracht. Das war sein Preis.«

Er hielt vor der roten Ampel am Fuß der Schleife.

»Meine Zimmernachbarin hat mich gewarnt, daß es so kommen würde, aber ich wollte ihr nicht glauben. Ich würde mich niemals quer durchs Land ficken, ich nicht.« Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, aber er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Es ist nicht, so, daß man von den Leuten dazu gezwungen wird«, fuhr sie fort. »Man fühlt sich so losgelöst von allem, als würde man im Weltraum herumspazieren. Man kommt in eine fremde Stadt und denkt an all die Leute, die darin leben, und man möchte am liebsten weinen. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Es kann so schlimm werden, daß man sogar mit einem Kerl voller Pickel mitgehen würde, nur damit man nachts jemanden neben sich atmen hört und damit man reden kann.«

»Es interessiert mich nicht, mit wem Sie geschlafen haben«, sagte er und fädelte sich in den Verkehr ein. Er war wieder automatisch auf die Grand Street abgebogen, um zur Baustelle zu fahren.

»Dieser Geschäftsmann«, erzählte sie weiter. »Er ist vierzehn Jahre lang verheiratet gewesen. Das hat er immer wieder gesagt, während er auf mir drauflag. Vierzehn Jahre, Sharon, hat er gesagt, vierzehn Jahre, vierzehn Jahre. Er ist schon nach vierzehn Sekunden gekommen.« Sie lachte kurz auf. Es klang traurig und reuevoll.

»Ist das Ihr Name?« fragte er. »Sharon?«

»Nein. Ich glaube, so hieß seine Frau.«

Er hielt am Straßenrand.

»Was machen Sie da?« fragte sie, wieder mißtrauisch geworden.

»Nichts besonderes«, antwortete er. »Es ist nur ein Teil meines Heimwegs. Steigen Sie aus, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen etwas zeigen.«

Sie stiegen aus und gingen zur Aussichtsplattform hinüber, die jetzt verlassen dastand. Er legte wie immer seine bloßen Hände ums Geländer und sah nach unten. Sie hatten heute die Straße grundiert. Während der letzten drei Arbeitstage hatten sie das Bett mit Kies ausgefüllt, heute war die Grundierung drangekommen. Die verlassenen Baumaschinen - LKW’s, Kräne, gelbe Bagger - standen reglos im Abendlicht wie Ausstellungsstücke in einem Naturkundemuseum. Dinosaurier. Hier haben wir den riesigen Vegeta-rier, den Stegosaurus, dort drüben den fleischfressenden Triceratops und da hinten den furchtbaren, Erde verschlingenden Dieselschaufelsaurier. Bon appetit.

»Was halten Sie davon?« fragte er sie.

»Soll ich etwas davon halten?« gab sie abwehrend zurück, unsicher, was die Situation zu bedeuten hatte.

»Sie müssen doch irgend etwas denken.«

Sie zuckte die Achseln. »Straßenbauarbeiten, was sonst?

Man baut hier eine Straße in einer Stadt, die ich vermutlich nie wiedersehen werde. Was soll ich also davon halten? Ich finde es häßlich.«

»Häßlich«, wiederholte er erleichtert.

»Ich bin in Portland in Maine aufgewachsen«, erzählte sie.

»Wir haben in einem riesigen Hochhaus gewohnt, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein großes Einkaufszentrum gebaut …«

»Haben sie dafür etwas abgerissen?«

»Hm?«

»Haben sie …«

»Oh. Oh, nein. Es war vorher ein leerer Platz mit einem großen Feld dahinter. Ich war damals gerade sechs oder sieben. Es kam mir so vor, als ob sie da in alle Ewigkeit den Boden aufreißen und umgraben und umpflügen würden. Und das einzige, was mir dazu einfiel … es ist schon komisch … das einzige, was ich damals dachte, war: Arme, alte Erde, sie geben dir einfach eine Klistierspritze, ohne dich zu fragen, ob du willst oder ob du überhaupt krank bist. Ich hatte in diesem Jahr eine Darminfektion und ich war Experte in bezug auf Klistierspritzen.«

»Oh«, sagte er.

»Wir sind mal an einem Sonntag, als sie nicht gearbeitet haben, rübergegangen und haben uns die Baustelle angesehen. Sie sah genauso aus wie diese hier. Sehr still, wie eine Leiche in einem Bett. Sie hatten das Fundament schon halb tätig, und es steckten überall so gelbe Metalldinger im Zement …«

»Verstrebungen.«

»Was auch immer. Und dann waren da noch eine Unmenge von Rohren und Drähten zu sehen, die in durchsichtige Plastikhüllen eingewickelt waren, und überall lag eine Menge von rohem Dreck rum. Das klingt komisch, denn gekochten Dreck gibt’s wohl nicht, aber genau so hat es ausgesehen. Roh. Wir haben dort oft Verstecken gespielt, bis meine Mutter eines Tages rübergekommen ist und mich und meine Schwester entsetzlich ausgeschimpft hat. Meine kleine Schwester war erst vier Jahre alt und hat geheult wie ein Schloßhund. Komisch, jetzt nach all der langen Zeit daran zu denken. Können wir wieder ins Auto? Mir ist kalt.«

»Sicher«, sagte er, und sie gingen zurück.

Als sie weiterfuhren, sagte sie: »Ich hätte nie gedacht, daß aus dem Ganzen mal was anderes herauskommt als ein großes Chaos. Aber dann, eines Tages, stand das fertige Ein-kaufszentrum vor uns. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem sie den Parkplatz asphaltiert haben. Ein paar Tage später kam ein Mann mit einem kleinen Wägelchen vorbei und zog überall gelbe Linien. Dann veranstalteten sie eine große Party, und irgend so ein hohes Tier schnitt ein Band durch, und dann fingen alle an, dort einzukaufen. Es war so, als wäre es nie gebaut worden, als hätte es immer schon da gestanden. Es hatte auch einen Namen, sie nannten es Mammoth Mart, und meine Mutter ist ständig dorthin gegangen. Manchmal, wenn Angie und ich mit ihr dort einkaufen waren, mußte ich heimlich an all die gelben Metall-streben denken, die jetzt wohl irgendwo im Keller steckten.

Es war so etwas wie mein Geheimnis.«

Er nickte. Er kannte sich in Geheimnissen aus.

»Was für eine Bedeutung hat es für Sie?« wollte sie wissen.

»Das versuche ich immer noch herauszufinden«, antwortete er.

Er wollte ihnen ein TV-Dinner warm machen, aber sie warf einen Blick in den Kühlschrank, entdeckte den Schweinebraten und schlug vor, ihn zuzubereiten, wenn er warten wolle, bis er gar sei.

»Klar«, antwortet er erfreut. »Ich wußte bloß nicht, wie lange man ihn braten muß oder bei welcher Temperatur.«

»Sie vermissen Ihre Frau, nicht wahr?«

»Ja, sehr.«

»Weil Sie nicht mal wissen, wie man einen Schweinebraten macht?« hakte sie nach, aber darauf antwortete er nicht. Sie buk noch ein paar Kartoffeln dazu und kochte den tiefgefrorenen Mais. Sie aßen in der Frühstücksecke, und sie langte kräftig zu. Sie schaffte vier dicke Fleischscheiben, zwei Kartoffeln und zwei Portionen Mais.

»Ich habe schon seit einem Jahr nicht mehr so gut gegessen«, erklärte sie dann, zündete sich eine Zigarette an und blickte zufrieden auf ihren leeren Teller. »Jetzt habe ich mich vermutlich überfressen.«

»Wovon haben Sie sich ernährt?«

»Erdnußflips.«

»Was?«

»Erdnußflips.«

»Ich dachte doch, daß ich das gehört hätte.«

»Sie sind billig«, verteidigte sie sich. »Und sie füllen den Magen. Außerdem haben sie auch Nährstoffe, das steht jedenfalls auf der Packung.«

»Nährstoffe, daß ich nicht lache! Davon kriegst du höchstens Pickel, Mädchen. Dafür bist du wirklich zu alt. Komm mit.«

Er führte sie ins Wohnzimmer und öffnete Marys Geschirrschrank. Dort holte er eine silberne Schüssel hervor und zog einen Haufen Geldscheine heraus. Sie riß die Augen auf.

»He, Mister, wen haben Sie überfallen?«

»Meine Versicherung. Ich hab’ mir die Police auszahlen lassen. Hier sind zweihundert Dollar. Kaufen Sie sich was zu essen.«

Sie faßte das Geld nicht an. »Sie sind verrückt«, sagte sie.

»Was wollen Sie für zweihundert Dollar bei mir erreichen?«