Was machte er hier? Ihn überkam eine realistische Vision von dem, was er mit seinem Leben getan hatte, und es war ein unheimlicher Anblick. Er hatte es wie einen alten Lumpen in der Mitte durchgerissen. Nichts war mehr in Ordnung. Er litt. Er hatte einen faulen Southern-Comfort-Geschmack im Mund und stieß plötzlich eine saure Magenflüssigkeit auf, die er angeekelt hinunterschluckte.
Dann fing er fürchterlich an zu zittern und umklammerte seine Knie, damit es aufhörte. Was machte er hier auf dem Fußboden in seinem Wohnzimmer, seine Knie umklammernd und zitternd wie ein Alkoholiker in der Gosse? Oder ein Geisteskranker, ein bescheuerter Psychopath, das kam der Sache wohl näher. War er das wirklich? War er geisteskrank? Nicht so etwas Komisches und Harmloses wie ein Spinner oder ein Knallkopf oder einfach nur ein Verrückter, sondern ein wirklicher, echter Psychopath? Der Gedanke erfüllte ihn erneut mit Schrecken. War er wirklich zu einem Berufsverbrecher gegangen, um sich den Sprengstoff zu besorgen? Hatte er wirklich zwei Gewehre in seiner Garage versteckt, von denen eins groß genug war, um einen Elefanten zu töten? Ein hoher, wimmernder Ton entschlüpfte seiner Kehle, und er versuchte vorsichtig aufzustehen. Seine Knochen knackten wie die eines sehr alten Mannes.
Er torkelte die Treppen hinauf, wobei er sich jeden weiteren Gedanken verbot, und trat ins Schlafzimmer. »Olivia?«
Es war volkommen lächerlich, wie in einem altmodischen Rudolph-Valentino-Film. »Bist du noch wach?«
»Ja«, antwortete sie, kein bißchen schläfrig. »Die Uhr hat mich nicht einschlafen lassen. Diese Digitaluhr. Sie hat ständig klick gemacht. Ich hab’ den Stecker rausgezogen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. Lächerlich, einfach lächerlich. »Ich habe schlecht geträumt.«
Die Bettdecke wurde zurückgeschlagen. »Komm«, sagte sie. »Komm zu mir.«
»Ich …«
»Willst du wohl den Mund halten.«
Er schlüpfte ins Bett. Sie war nackt. Sie liebten sich und danach schliefen sie ein.
Am nächsten Morgen herrschten draußen immer noch zehn Grad minus. Sie fragte, ob er eine Zeitung ins Haus bekäme.
»Früher mal«, antwortete er. »Kenny Upslinger hat sie immer ausgetragen. Seine Familie ist jetzt nach lowa gezogen.«
»Iowa, immerhin«, bemerkte sie und drehte das Radio an.
Sie hörten gerade noch den Wetterbericht. Es würde ein kalter, klarer Tag werden.
»Möchtest du ein Spiegelei?«
»Zwei, wenn du soviel hast.«
»Sicher. Hör mal, wegen gestern nacht …«
»Mach dir keine Sorgen deswegen. Ich bin gekommen. Das ist bei mir sehr selten. Es hat mir gefallen.«
Er war insgeheim stolz darauf, aber vielleicht wollte sie genau das erreichen. Er briet die Eier, zwei für sie und zwei für sich. Kaffee und Toast. Sie trank drei Tassen mit Zucker und Sahne.
»Was wirst du jetzt tun?« fragte sie, als sie beide ihr Frühstück beendet hatten.
»Ich bring’ dich nach Landy«, antwortete er prompt.
Sie fuhr ungeduldig mit einer Hand durch die Luft. »Das meine ich nicht. Was fängst du mit deinem Leben an?«
Er grinste. »Das klingt verdammt ernst.«
»Nicht für mich«, entgegnete sie, »sondern für dich.«
»Ich hab’ noch nicht darüber nachgedacht. Weißt du, ehe« - er betont das ›ehe‹ leicht, als wolle er damit andeuten, daß sein gesamtes Leben und alles, was dazugehörte, bis ans Ende der Welt weggesegelt war - »ehe dieses Beil auf mein Glück gefallen ist, habe ich mich wie ein zum Tode Verurteil-ter in der Todeszelle gefühlt. Nichts war mehr real. Ich kam mir vor wie in einem gläsernen Traum, der niemals aufhören würde. Aber letzte Nacht … das war sehr real.«
»Ich bin froh«, sagte sie und sie sah auch froh aus. »Aber was wirst du jetzt tun?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich finde es traurig«, sagte sie.
»Ist es das?« Es war eine ehrlichgemeinte Frage.
Sie saßen wieder im Wagen und fuhren auf der Route 7 nach Landy. Der Stadtverkehr war zähflüssig, die Leute waren auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Als sie an der Baustelle vorbeikamen, fingen die täglichen Arbeiten dort gerade an. Männer mit gelben Sturzhelmen und grünen Gummistiefeln kletterten auf ihre Maschinen. In der Kälte hing ihr gefrorener Atem in weißen Wölkchen vor ihren Mündern. Der Motor eines orangefarbenen LKWs röhrte auf, blieb still, röhrte nochmals und sprang mit einem explosionsartigen Geräusch an. Dann hustete er wieder, bis er in ein ungleichmäßiges Tuckern fiel.
Der Fahrer trat ein paarmal aufs Gaspedal, und der Auspuff ballerte los wie ein Maschinengewehr.
»Von hier oben sehen sie aus wie kleine Jungen, die mit ihren Lastern im Sandkasten spielen«, sagte sie.
Draußen vor der Stadt war der Verkehr nicht mehr so dicht. Sie hatte die zweihundert Dollar ohne Verlegenheit und ohne Zögern genommen - aber sie war dabei auch nicht besonders eifrig gewesen. Sie hatte eine Naht ihres Armeemantels aufgetrennt, die beiden Geldscheine hineingeschoben und sie dann mit einer Nadel und einem blauen Faden aus Marys Nähkästchen wieder zugenäht. Sein Angebot, sie zum Busbahnhof zu fahren, hatte sie mit der Begründung abgelehnt, daß das Geld länger reichen würde, wenn sie weiter trampte.
»Also, was macht denn nun so ein nettes Mädchen wie du in einem Auto wie diesem?« fragte er sie.
»Ha?« Sie sah ihn, aus ihren Gedanken gerissen, verwirrt an.
Er lächelte. »Warum du? Warum Las Vegas? Du lebst genau wie ich am Rande der Gesellschaft. Erzähl mir was von dir.«
Sie zuckte die Achseln. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen.
Ich war Studentin an der Universität von New Hampshire in Durham. Das liegt in der Nähe von Portsmouth. Ich hab’ im letzten Jahr dort angefangen und außerhalb des Campus mit einem Kerl zusammengewohnt. Wir sind da in eine schlimme Drogensache hineingeraten.«
»Meinst du etwa Heroin?«
Sie lachte belustigt. »Nein, ich hab’ nie jemanden kennengelernt, der Heroin spritzt. Wir netten kleinen Mittelklassefi-xer bleiben lieber bei den Halluzinogenen. Lysergsäure, Meskalin, manchmal auch Peyote und LSD. Chemische Drogen eben. Zwischen September und November hatte ich so sechzehn oder achtzehn Trips.«
»Wie ist das denn so?« wollte er wissen.
»Meinst du damit, ob ich einige Horrortrips hatte?«
»Nein, das habe ich überhaupt nicht gemeint«, antwortete er abwehrend.
»Ich hatte einige schlechte Trips, aber die hatten auch schöne Teile. Und ich hatte einige gute Trips mit schlechten Phasen. Einmal habe ich mir eingebildet, ich hätte Leukämie.
Das war unheimlich. Im großen und ganzen sind alle Trips seltsam. Aber ich habe nie Gott gesehen und wollte nie Selbstmord begehen und habe auch nie versucht, jemanden umzubringen.«
Sie dachte einen Augenblick lang nach. »Ich finde, daß die Leute in bezug auf chemische Drogen fürchterlich übertreiben. Die gutbürgerlichen wie Art Linkletter sagen, daß sie einen umbringen. Die Freaks wiederum behaupten, daß sie einem alle Türen öffnen, die man in sich öffnen muß. Als ob man in sich einen Tunnel zu seinem wahren Selbst finden könnte. Und als ob die Seele so etwas wie ein Schatz aus einem Roman von H. Rider Haggard sei. Hast mal was von ihm gelesen?«
»Ich hab’ mal She gelesen, als ich noch ein Kind war. Ist das von ihm?«
»Ja. Glaubst du, daß die Seele so etwas ist wie ein Smaragd auf der Stirn irgend eines Götteridols?«
»Darüber hab’ ich nie nachgedacht.«
»Ich glaube das nicht«, sagte sie. »Ich werde dir den besten und den schlechtesten Trip erzählen, den ich mit dem Zeug hatte. Der beste war, als ich einmal in unserer Wohnung ausgeflippt bin und die ganze Zeit die Tapete angeschaut habe.