Sie hatte überall so kleine, runde Punkte, und .für mich wurden sie plötzlich zu Schnee. Ich saß über eine Stunde im Wohnzimmer und beobachtete den Schneesturm an der Wand. Plötzlich sah ich, wie sich ein kleines Mädchen durch den Schnee kämpfte. Es hatte ein Taschentuch über dem Kopf, ein sehr großes Tuch wie aus Sackleinen, und sie hielt es etwa so …« Sie hob eine Faust unters Kinn, als würde sie das Tuch festhalten. »Ich dachte mir, daß es nach Hause wollte, und, zack, ich hab’ tatsächlich eine richtige Straße an der Wand gesehen, die über und über mit Schnee bedeckt war. Das Mädchen stapfte die Straße entlang und verschwand dann in einem richtigen Haus. Das war der beste Trip. In unserem Wohnzimmer zu sitzen und Wandvision zu genießen. Jeff hat es später Kopfvision genannt.«
»Ist Jeff der Typ, mit dem du zusammengelebt hast?«
»Ja. Der schlimmste Trip war, als ich eines Tages das Abflußrohr von unserem Waschbecken reinigen wollte. Man kommt manchmal schon auf komische Ideen, wenn man auf einem Trip ist, aber in dem Augenblick kommt einem das völlig normal vor. Ich mußte dieses Abflußrohr unbedingt absaugen. Ich holte mir also den Sauger und fing damit an … und, dann stieg auf einmal all dieser Dreck hoch. Ich hab’ heute noch keine Ahnung, wieviel ich mir davon nur eingebildet habe und wieviel echt war. Kaffeesatz. Ein alter Hemdfetzen.
Große geronnene Fettklumpen. Eine rote Flüssigkeit, die wie Blut aussah. Und dann die Hand. Eine Männerhand.«
»Eine was?«
»Eine Hand. Ich rief sofort nach Jeff und wollte ihm sagen: ›He, da hat jemand einen Mann in unserem Abfluß runtergespült.‹ Aber Jeff war weggegangen, und ich stand ganz allein da. Ich habe wie der Teufel mit dem Sauger gearbeitet, bis ich den ganzen Arm draußen hatte. Die Hand lag jetzt im Waschbecken, völlig verdreckt mit Kaffeesatz und all dem Zeug, und der Arm steckte noch im Abflußrohr. Ich ging noch mal ins Wohnzimmer, um nachzusehen, ob Jeff endlich nach Hause gekommen war, und als ich in die Küche zurückkam, war die Hand und der Arm verschwunden. Es hat mich irgendwie beunruhigt. Heute träume ich manchmal noch davon.«
»Das ist verrückt«, sagte er und nahm das Gas weg, weil sie gerade über eine Brücke fuhren, an der gebaut wurde.
»Dieses Zeug macht einen verrückt«, erwiderte sie.
»Manchmal ist es eine gute Sache. Aber meistens ist es das nicht. Jedenfalls steckten wir meiner Meinung nach zu tief drin. Hast du mal so ein Atommodell gesehen. Mit dem Kern in der Mitte und den Protonen und Elektronen, die drum herum kreisen?«
»Ja.«
»Mir kam es mit der Zeit so vor, als sei unsere Wohnung der Atomkern, und all die Leute, die dort ständig ein und aus gingen, seien die Protonen und Elektronen. Sie tauchten einfach auf und verschwanden wieder und hatten überhaupt keine Verbindung miteinander. Wie in Manhattan Transfer.«
»Das habe ich nicht gelesen.«
»Solltest du mal. Jeff hat immer gesagt, Dos Passos wäre der Subkulturjournalist. Ein ausgeflipptes Buch. Wie dem auch sei, wir saßen abends vor dem Fernseher, hatten den Ton abgeschaltet und dazu eine Platte laufen lassen, und knallten uns die Birne voll. Im Schlafzimmer lagen sie auf dem Bett und vögelten, und ich hatte nie eine Ahnung, wer, zum Teufel, all diese Leute waren. Verstehst du, was ich meine?«
Er dachte an die Partys, auf denen er betrunken und so verwirrt wie Alice im Wunderland herumgelaufen war, und sagte: »Ja.«
»An einem Abend lief die Bob-Hope-Spezialshow. Alle saßen sie um den Fernseher herum, alle waren sie high und lachten sich über seine blöden Witze halbtot. Alle hatten sie denselben dämlichen Gesichtsausdruck und machten ihre wohlwollenden Scherze über die machthungrigen Idioten in Washington. Sie saßen genauso da wie ihre alten Mammies und Daddies zu Hause, und ich dachte mir, dafür sind wir also durch den Vietnamkrieg gegangen, damit Bob Hope den Generationsunterschied ausgleicht. Es ist nur die Frage, auf welche Art man high wird.«
»Und du warst dafür zu ehrlich?«
»Ehrlich? Nein, das war nicht der Grund. Ich hab’ nachgedacht und mir die letzten fünfzehn Jahre wie ein Monopolyspiel vorgestellt. Francis Gary Powers auf der Straße erschossen. Eine Runde aussetzen. Negeraufstand in Selma mit Wasserwerfern aufgelöst. Gehen Sie direkt ins Gefängnis.
Friedensprotestler in Mississippi niedergeschossen, Märsche, Aufstände, Lester Maddox mit seinem Axtschaft, Kennedy in Dallas erschossen, Vietnam, wieder Friedensmärsche, Kent State, Studentenunruhen, Frauenbefreiungsbewegung, und wofür das alles? Damit so ein paar Idioten an-geturnt in einer vergammelten Wohnung vor dem Fernseher sitzen und sich Bob Hope reinziehen? Nein! Deshalb bin ich abgehauen.«
»Und was ist mit Jeff?«
Sie zuckte die Achseln. »Er hat ein Stipendium und er ist ziemlich gut. Er sagt, er will nächsten Sommer Examen machen, aber ich werde nicht nach ihm suchen.« Ihr Gesicht nahm einen eigenartig enttäuschten Ausdruck an, so als empfinde sie innerlich eine abgestumpfte Nachsicht für ihn.
»Vermißt du ihn?«
»Jede Nacht.«
»Warum nach Las Vegas? Kennst du dort jemanden?«
»Nein.«
»Ich finde, das ist ein seltsamer Ort für eine Idealistin.«
»Hältst du mich für eine Idealistin?« fragte sie lachend und zündete sich eine Zigarette an. »Vielleicht bin ich das. Aber ich glaube nicht, daß ein Ideal eine bestimmte Umgebung braucht. Ich möchte mir die Stadt ansehen. Sie ist so verschieden von dem Rest dieses Landes, daß es bestimmt gut wird.
Aber ich werde dort nicht spielen. Ich suche mir einfach ‘ne Arbeit.«
»Und dann?«
Sie stieß den Rauch aus. Draußen flog ein Schild vorbei: LANDY 5 MEILEN
»Ich werde versuchen, mir etwas zusammenzusparen. Ich werde mir keine Drogen mehr reinknallen und ich werde auch versuchen, damit aufzuhören.« Sie hielt die Zigarette in die Luft und beschrieb mit ihr einen unfreiwilligen Kreis. Es sah so aus, als ob ihre Zigarette es besser wüßte. »Ich werde damit aufhören, mir immer wieder vorzumachen, daß mein Leben noch gar nicht angefangen hätte. Es hat angefangen, und zwanzig Prozent davon sind schon vorüber. Ich habe den Rahm schon abgeschöpft.«
»Da vorne ist die Autobahnauffahrt.«
Er fuhr den Wagen an die Seite und hielt.
»Und was ist nun mit dir? Was wirst du in Zukunft tun?«
Vorsichtig antwortete er: »Mal sehen, wie sich das so entwickelt. Mir alle Möglichkeiten offenhalten.«
»Du bist in keiner guten Verfassung, wenn ich dir das mal so sagen darf.«
»Du darfst.«
»Hier, nimm das.« Sie hielt eine Kugel aus Aluminiumfolie zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand.
Er nahm sie und betrachtete sie fragend. Die Folie reflektierte ein paar Sonnenstrahlen, die auf sein Gesicht fielen.
»Was ist das?«
»Synthetisches Meskalin. Man nennt es Produkt Vier. Die sauberste und stärkste chemische Droge, die je hergestellt worden ist.« Sie zögerte einen Augenblick. »Vielleicht solltest du sie einfach in der Toilette hinunterspülen, wenn du nach Hause kommst. Aber sie könnte dir auch helfen. Ich hab’ schon öfters gehört, daß es hilft.«
»Hast du es auch gesehen?«
Sie lächelte bitter. »Nein.«
»Würdest du mir einen Gefallen tun? Wenn du kannst?«
»Wenn ich kann.«
»Ruf mich am Heiligen Abend an.«
»Warum?«
»Du bist für mich wie ein Buch, das ich nicht ausgelesen habe. Ich möchte ein bißchen mehr darüber wissen, wie es ausgeht. Melde es als R-Gespräch an, hier, ich geb’ dir schnell die Nummer.«
Er wollte schon sein Notizbuch aus der Tasche holen, aber sie sagte: »Nein.«
Er sah sie verwirrt und verletzt an. »Nein?«