Er steckte einen Fetzen Stoff in jeden Flaschenhals, um sie dicht zu verschließen. Dann brachte er den Trichter ins Haus zurück. Der Schnee bedeckte jetzt in kleinen, schiefen Windverwehungen den Boden, und die Auffahrt war schon ganz weiß. In der Küche stellte er den Trichter ins Spülbecken und nahm den Plastikdeckel von Marys Eimer aus dem Schrank. Wieder in der Garage, deckte er den Eimer fest damit zu. Er öffnete den Kofferraum des LTD und stellte den Eimer hinten rein. Dann stellte er seine Molotowcocktails in einen der Kartons, dich nebeneinander, so daß sie nicht umkippen konnten und aufgereiht wie wachsame Soldaten dastanden. Den Karton stellte er in Reichweite auf den Beifahrersitz. Dann ging er ins Haus zurück, setzte sich in seinen Sessel und schaltete mit seinem Raumfahrtcommander den Fernseher ein. Der ›Dienstagabendfilm der Woche‹ war ein Western mit David Janssen in der Hauptrolle. Er fand, daß David Janssen einen ziemlich bescheuerten Cowboy abgab.
Als der Film vorbei war, behandelte Marcus Welby einen geistig gestörten Teenager auf Epilepsie. Der Teenager fiel immer wieder in der Öffentlichkeit in Ohnmacht. Marcus Welby heilte ihn natürlich. Danach folgten zwei Reklamespots, einer für Hundefutter und einer für ein Schallplattenalbum mit einundvierzig beliebten Spirituals. Dann die Nachrichten. Die Wettervorhersage kündigte an, daß es die ganze Nacht über und die Hälfte des nächsten Tages schneien würde. Die Bevölkerung wurde gebeten, möglichst zu Hause zu bleiben. Die Straßen wären gefährlich glatt, und die Räumfahrzeuge würden erst gegen zwei Uhr morgens mit ihrer Arbeit beginnen. Starke Winde sorgten für Schneeverwehungen, und alles in allem würden in den nächsten zwei Tagen die Straßenverhälrnisse ziemlich schlecht sein.
Nach den Nachrichten kam Dick Cavett dran. Er sah sich die Sendung ungefähr eine halbe Stunde an und schaltete den Fernseher dann ab. Ordner wollte ihm also etwas Kriminelles anhängen, was? Nun, wenn er hinterher mit seinem LTD steckenblieb, konnte er das haben. Aber er glaubte, daß seine Chancen ganz gut standen. Der LTD war ein schwerer Wagen und hatte Spikes auf den Hinterrädern.
Er zog sich seinen Mantel, Hut und Handschuhe an und blieb dann zögernd in der Küchentür stehen. Er machte noch mal einen Rundgang durch das warme, erleuchtete Haus und sah sich alles an - den Küchentisch, den Herd, den Eßzimmerschrank mit den am oberen Regal aufgehängten Teetassen, das Alpenveilchen auf dem Kaminsims im Wohnzimmer - und eine heiße Woge von Zuneigung durchströmte ihn. Er wollte das alles beschützen. Er stellte sich vor, wie die Stahlkugel mit Getöse durchs Haus fahren, die Mauern einstürzen, die Fenster zersplittern, die Trümmer über die Fußböden verstreuen würde. Niemals. Das würde er nie zulassen. Auf diesen Böden war Charlie herumgekrochen. Im Wohnzimmer hatte er seine ersten Schritte gelernt. Er war einmal von den Stufen vor der Haustür heruntergefallen und hatte seine Eltern damit fast zu Tode erschreckt. Charlies Zimmer war jetzt eine Art Arbeitszimmer im ersten Stock, aber es war trotzdem noch der Raum, in dem er seine ersten Kopfschmerzen bekommen, in dem er zum ersten Mal doppelt gesehen und diese seltsamen Gerüche wahrgenommen hatte. Manchmal wie Schweinebraten, dann wie verbranntes Gras, manchmal auch die Schnipsel vom Spitzen eines Bleistifts. Als Charlie gestorben war, waren über hundert Leute kondolieren gekommen, und Mary hatte sie in diesem Wohnzimmer mit Kaffee und Kuchen bewirtet.
Nein, Charlie, dachte er, nicht, wenn ich es verhindern kann.
Er zog das Garagentor auf und stellte fest, daß schon gut zehn Zentimeter Schnee in der Auffahrt lagen, Pulverschnee. Er stieg in den LTD und ließ den Motor warmlaufen.
Der Tank war noch zu Dreiviertel voll. Während er in dem mysteriösen grünen Licht der Blinklämpchen vom Armaturenbrett saß, mußte er an Arnie Walker denken. Nur die Länge eines Gartenschlauchs, das war gar nicht so schlimm.
Es wäre genauso, als würde man einschlafen. Er hatte mal irgendwo gelesen, daß eine Kohlenmonoxidvergiftung wie Einschlafen wäre. Es brachte einem sogar die Farbe ins Gesicht zurück, so daß man rosig und gesund aussah, voller Vitalität und Leben. Es …
Er schauerte zusammen, als wäre ihm sein eigener Geist begegnet. Er schaltete die Heizung ein. Als der Motor gleichmäßig lief und er zu zittern aufgehört hatte, legte er den Rückwärtsgang ein und setzte den Wagen zurück in den Schnee. Er konnte das Benzin in Marys Putzeimer glucksen hören, und das erinnerte ihn daran, daß er etwas vergessen hatte.
Er stellte den Wagen ab und ging noch mal ins Haus zurück. In der Schreibtischschublade fand er ein Paket Streichhölzer und packte seine Manteltaschen mit gut zwanzig Heftchen voll. Dann lief er wieder nach draußen.
Die Straße war sehr glatt.
An manchen Stellen befanden sich blanke Eisplatten unter dem Schnee, und als er vor der Ampel an der Crestallen-Garner-Kreuzung bremste, stellte der LTD sich quer. Als er den rutschenden Wagen abgefangen hatte, schlug sein Herz wie wild gegen seine Rippen. Das war wirklich ein verrücktes Unterfangen. Wenn er mit all dem Benzin einen Unfall baute, könnte man ihn nur noch mit einem Löffel von der Straße abkratzen und seine Überreste in einer Hundefutterschachtel begraben.
Besser als Selbstmord. Selbstmord ist eine Todsünde.
Reverenz an die Katholiken. Aber er glaubte nicht, daß es zu einem Unfall kommen würde. Es waren so gut wie keine Autos auf den Straßen, und er sah auch weit und breit keine Bullen. Die saßen wohl zusammengepfercht wie die Hühner in den Nebenstraßen in ihren Autos.
Er bog vorsichtig auf die Kennedy-Promenade ein, die für ihn wohl immer die Dumont Street bleiben würde. So hatte die Straße bis Januar 1964 geheißen, als der Stadtrat in einer Sondersitzung beschlossen hatte, sie umzubenennen. Die Dumont-Kennedy-Promenade führte vom Westend direkt in die Stadtmitte und lief gut zwei Meilen parallel zur neuen 784-Autobahn. Er blieb etwa eine Meile auf ihr und bog dann in die Grand Street ab. Eine halbe Meile weiter hörte die Straße plötzlich auf, ausgelöscht so wie das Grand Theatre selbst, möge es in Frieden ruhen. Im nächsten Sommer würde man die Grand wieder zum Leben erwecken, dann in Form einer Überführung (eine von den dreien, die er Magliore gegenüber erwähnt hatte), aber es würde nie wieder die alte Straße sein. Anstelle des Kinos sah man dann zur Rechten nur sechs - oder waren es acht? - dicht befahrene Fahrspuren unter sich. Er hatte sich durch das Fernsehen und die Tageszeitung eine Menge Informationen über die Baustelle angeeignet, aber nicht etwa bewußt, es war eher durch eine Art Osmose geschehen. Vielleicht sammelte er das Material ebenso instinktiv wie ein Eichhörnchen seinen Nußvorrat für den Winter. So wußte er zum Beispiel, daß die Baufirmen, die bei der Stadt unter Vertrag standen, ihre Hauptarbeiten für den Winter fast abgeschlossen hatten und daß sie alle notwendigen Demolierungen (das war’ doch mal ein Wort für dich, Freddy, Demolierungen! - aber Freddy nahm das Stichwort nicht auf) innerhalb der Stadtgrenzen bis Ende Februar beendet haben würden. Das schloß auch die Crestallen Street West mit ein. In gewisser Weise entbehrte die Sache nicht der Ironie. Wenn Mary und er nur eine Meile weiter außerhalb der Stadt gewohnt hätten, wäre ihr Haus nicht vor dem Frühling demoliert worden - vielleicht Ende Mai, Anfang Juni 1974. Und wenn Wünsche Pferde wären, würden alle Bettler hoch zu Roß daherkommen. Was er aber durch seine bewußte Beobachtung noch wußte, war, daß die meisten Baumaschinen genau an dem Punkt abgestellt worden waren, an dem sie die Grand Street gekillt hatten.
Beim Abbiegen scherte der Wagen hinten aus. Er steuerte gegen und redete dem Wagen gut zu, der einen kleinen Satz machte und dann mit gleichmäßigem Surren wieder geradeaus durch den fast jungfräulichen Schnee fuhr die Fahrspuren der Fahrzeuge, die vor ihm hier vorbeigekommen waren, waren verwischt und fast nicht mehr zu sehen. Bei dem Anblick von so viel Neuschnee fühlte er sich gleich wohler. Es war gut, in Bewegung zu sein, endlich etwas zu tun.