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Als er langsam mit dreißig Stundenkilometern (er hatte keine große Eile) die Straße entlangfuhr, wanderten seine Gedanken zu Mary und zu der katholischen Auffassung von Sünde zurück. Läßliche Sünden und Todsünden. Mary war katholisch erzogen worden und als Kind in eine kirchliche Grundschule gegangen. Die meisten dieser religiösen Vorstellungen hatte sie - zumindest vom Verstand her - als Erwachsene aufgegeben, aber als sie sich damals begegnet waren, hatte das Zeug ihr noch tief in den Knochen gesteckt - das, was einem sozusagen mit der Muttermilch eingetrichtert wurde. Mary sagte immer, die Nonnen hätten ihr sechs Schichten Politur und drei Schichten Wachs aufgelegt. Nach ihrer Fehlgeburt hatte ihre Mutter ihr einen Pfarrer ins Krankenhaus geschickt, damit sie eine richtige Beichte ablegen könnte, und bei seinem Anblick war sie in Tränen ausgebrochen. Er hatte neben ihrem Bett gesessen, als der Pfarrer mit seinen Hostien ins Zimmer getreten war, und Marys Tränen hatten ihm das Herz zerrissen, was seitdem nur noch einmal wieder passiert war.

Er hatte sie einmal gebeten, ihm die Sünden zu nennen, und sie hatte ihm die ganze vollständige Liste heruntergeleiert, die läßlichen und die Todsünden. Obwohl sie ihren Katechismus vor zwanzig, fünfundzwanzig, ja dreißig Jahren gelernt hatte, war er ihr immer noch (wenigstens in seinen Augen) fehlerfrei und vollständig präsent. Es gab da eine Frage der Auslegung, die er nicht ganz verstehen konnte. Manchmal war eine Sache eine Todsünde, unter anderen Umständen aber läßlich. Es kam dabei wohl auf die geistige Verfassung des Sünders an. Das Bewußtsein tut das Böse. War das etwas, das sie damals während ihrer lange Diskussionen gesagt hatte, oder hatte Freddy ihm das gerade eingeflüstert?

Der Gedanke bereitete ihm Sorgen. Das Bewußtsein tut das Böse.

Schließlich glaubte er verstanden zu haben, was die beiden größten Sünden waren, die beiden schweren, unwiderruflichen Todsünden: Mord und Selbstmord. Aber bei einer späteren Unterhaltung - war es mit Ron Stone gewesen? er glaubte ja - war ihm selbst dies nicht mehr ganz klar. Ron hatte gemeint, daß Mord manchmal auch nur eine läßliche Sünde sein könnte. (Sie hatten zusammen ein Bier getrunken, und es kam ihm so vor, als wäre es schon zehn Jahre her.) Oder unter gewissen Umständen auch gar keine. Wenn man einen Kerl kaltblütig ermordete, der die eigene Frau vergewaltigt hatte, könnte das sicher als läßliche Sünde gelten.

Und wenn man jemanden in einem gerechten Krieg tötete - genau das waren Rons Worte gewesen, er konnte ihn noch genau wie damals hören, als hätte er eine Tonbandaufzeich-nung im Gehirn -, dann galt das überhaupt nicht als Sünde.

Ron glaubte, daß alle amerikanischen GIs, die Nazis und Jap-sen umgebracht hatten, am Tag des Jüngsten Gerichts gut dastehen würden.

Blieb noch Selbstmord. Dieses häßliche Wort.

Er kam jetzt zur Baustelle. Sie war mit schwarzweißen Sägeböcken abgesperrt, auf denen orangefarbene Lampen blinkten. Große organgefarbene Schilder mit schwarzer Aufschrift leuchteten im Schein der Lampen auf. Auf einem stand:

DIE STRASSE ENDET VORÜBERGEHEND HIER

Auf dem nächsten:

UMLEITUNG - FOLGEN SIE DEN HINWEISSCHILDERN

Und auf einem anderen:

SPRENGGEBIET!

SCHALTEN SIE IHRE FUNKGERÄTE AUS

Er fuhr an die Seite, schaltete das Getriebe auf Leerlauf und die Warnblinkanlage ein und stieg aus dem Wagen. Dann ging er zur Absperrung hinüber. Die Schneeflocken wirkten in dem orangefarbenen Blinklicht irgendwie dicker und nahmen eine völlig absurde Farbe an.

Er wußte auch noch, daß die Frage der Absolution ihn verwirrt hatte. Zu Anfang hatte er das Ganze für ziemlich einfach gehalten: Wenn man eine Todsünde begangen hatte, war die Seele tödlich verwundet und für immer verdammt.

Man konnte so viele Ave Marias beten, bis einem die Zunge rausfiel, man würde trotzdem zur Hölle fahren. Aber Mary sagte, daß es nicht unbedingt immer so sein müßte. Da gab es die Beichte und die Buße und den Segen und so weiter. Es war wirklich sehr verwirrend. Christus hatte zwar gesagt, daß ein Mörder niemals das ewige Leben erlangen könne, aber er hatte auch gesagt: ›Wer an mich glaubt, dem wird nichts mangeln.‹ Es kam ihm so vor, als gäbe es in der kirchlichen Dogmatik ebensoviele Fallstricke wie in einem Kaufver-trag eines Winkeladvokaten. Selbstmord natürlich ausgenommen. Man konnte Selbstmord nicht beichten oder bereuen oder sühnen, denn mit diesem Akt schnitt man das silberne Band durch und tauchte in andere Welten ein, welche das auch immer sein mochten. Und …

Aber warum dachte er überhaupt darüber nach? Er hatte nicht die Absicht, jemanden zu töten, und ganz bestimmt hatte er nicht vor, sich selbst umzubringen. Er hatte sich ja noch niemals Gedanken über Selbstmord gemacht. Jedenfalls nicht bis vor kurzem.

Er blickte über die Absperrung hinweg und fühlte sich plötzlich innerlich kalt und leer.

Da standen die mit einer Schneehaube bedeckten Baumaschinen unter der Herrschaft des riesigen Abbruchkrans. In seiner feindseligen Unbeweglichkeit wirkte er wie ein tyrannischer Schreckensherrscher. Der skelettartige Hals, der sich hoch in den dunklen Schneehimmel reckte, erinnerte ihn an eine Gottesanbeterin, die sich in unbekannte Gefilde zur Winterkontemplation zurückgezogen hat.

Er schob einen der Sägeböcke zur Seite. Er war sehr leicht.

Dann ging er zum Wagen zurück, stieg ein und legte einen niedrigen Gang ein. Langsam ließ er den Wagen über den Randstein kriechen und den Abhang hinunterrollen. Das Gelände war von den schweren Baumaschinen ziemlich ausgefahren. Der Sand unter dem Schnee verringerte die Tendenz des LTD, unter ihm auszubrechen. Als er unten angekommen war, legte er wieder den Leerlauf ein und schaltete alle Lichter aus. Er kletterte den Hügel hinauf, ziemlich bald außer Atem, und stellte den Bock zurück an seinen Platz. Dann stieg er wieder nach unten.

Dort öffnete er den Kofferraum und holte Marys Putzeimer heraus. Er ging mit ihm um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und stellte ihn neben den Karton mit seinen Feuerbomben auf den Boden. Er hob den Deckel ab und tauchte, leise vor sich hin summend, jeden Flaschendocht ins Benzin.

Nachdem er das erledigt hatte, ging er mit dem Eimer zum Kran hinüber und kletterte vorsichtig, um nicht abzurut-schen, in die unverschlossene Kabine. Er war jetzt aufgeregt, sein Herz schlug schnell und seine Kehle war vor bitterer Erregung wie zugeschnürt.

Er schüttete das Benzin über den Sitz, das Armaturenbrett, die Gangschaltung. Danach trat er auf das schmale Gitter, das die Motorhaube des Krans umrandete, und ließ den Rest des Benzins über die Maschine laufen. Benzindämpfe füllten die Luft. Seine Handschuhe waren völlig durchnäßt, und seine Hände wurde sofort taub. Er sprang hinunter, streifte die Handschuhe ab und steckte sie in die Manteltasche. Das erste Streichholzheft glitt ihm aus den Fingern, die so steif und gefühllos wie Holz waren. Er versuchte es mit dem zweiten Heft, aber der Wind blies sofort das erste Streichholz aus.

Er drehte sich mit dem Rücken zum Wind, beugte sich schützend über die Streichhölzer, und endlich brannte eines. Er hielt es an die restlichen Hölzer, die zischend Feuer fingen.

Das brennende Heftchen warf er in die Kabine.

Zuerst dachte er, daß sie doch wieder ausgegangen wären denn es geschah nichts. Doch bald darauf hörte er ein leises, explosives Wusch, und das Feuer brach mit einer Wucht aus der Kabine, daß er unwillkürlich einige Schritte zurückwich.

Er schirmte seine Augen vor der hell lodernden Blume ab, die da oben aufgeblüht war.