Läßt sich nicht operieren.
Die Worte hallten noch über Jahre hinweg in ihm nach. Er hätte nie geglaubt, daß Worte einen Geschmack besäßen, aber diese hatten einen. Einen ekelhaften, doch irgendwie saftigen Geschmack nach verdorbenem, rohem Hackfleisch.
Läßt sich nicht operieren.
Irgendwo tief in Charlies Gehirn, hatte Dr. Younger ihnen erklärt, befände sich eine Ansammlung von bösen Zellen, die ungefähr die Größe einer durchschnittlichen Walnuß besäße.
Wenn man diesen Zellenhaufen vor sich auf dem Schreibtisch hätte, könnte man ihn mit einem Handschlag zerstören.
Aber er war leider nicht auf dem Tisch. Er befand sich in der Mitte von Charlies Kopf, wo er wohlgeborgen weiterwachsen und ihren Sohn mit der Krankheit erschlagen konnte.
Kurz nach der Visite bei dem Arzt hatte er Charlie in der Mittagspause im Krankenhaus besucht. Sie hatten sich über Baseball unterhalten und sich sogar vorgenommen, zu den Playoff-Spielen der American Baseball League zu gehen, wenn ihr Stadtteam gewinnen sollte.
Plötzlich hatte Charlie gesagt: »Ich glaube, wenn sie es mmmmmmm, mmmmmm, mmmmmmmmm wenn sie es mmmmmm mmm mmmmm schaffen mmmmmmm …«
Er hatte sich vorgebeugt. »Was ist los, Fred? Ich kann dich nicht verstehn.«
Charlie hatte nur noch die Augen verdreht.
»Fred?« hatte er geflüstert. »Freddy …?«
»Gottverdammtermutterfickender-mmmmmnnnnmmmhurensohn!« hatte Charlie plötzlich in dem weißen Krankenhausbett losgebrüllt. »Mösenleckendes, schwanzstreichelndes, arschleckendes Aaaaarschloch …«
»Schwester!« hatte er gerufen, während Charlie in Ohnmacht fiel. »O GOTT, SCHWESTER!«
Es waren diese bösen Zellen, diese gemeinen kleinen Biester, die ihn so haben reden lassen. Ein Haufen von kleinen, bösen Gehirnzellen, nicht größer - so hatte man ihm gesagt - als eine Walnuß. Die Krankenschwester sagte ihm, daß Charlie eines Nachts über fünf Minuten lang das Wort Buschland geschrien hätte. Er hätte es wieder und wieder gebrüllt. Die bösen Zellen, wissen Sie. Nicht größer als die gewöhnliche Gartenwalnuß. Sie ließen ihn toben wie einen unflätigen Hafenarbeiter, ließen ihn ins Bett machen, verursachten seine Kopfschmerzen und nahmen ihm die Möglichkeit - so um die erste Juniwoche herum -, seine linke Hand zu bewegen.
»Sehen Sie mal her«, hatte Dr. Younger sie an diesem strahlenden Junitag, der zum Golf spielen gerade richtig war, aufgefordert und eine Papierrolle vor ihnen ausgebreitet. Es war eine Aufzeichnung von Charlies Gehirnwellen gewesen.
Er hatte eine Aufzeichnung von gesunden Gehirnwellen zum Vergleich daneben gelegt, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Er hatte sich angesehen, was im Kopf seines Sohnes vor sich ging, und hatte wieder diesen ekelhaften Geschmack im Mund gespürt. Auf dem Papier war eine unregelmäßige Serie von Gebirgsspitzen und Tälern zu sehen gewesen, die wie eine Reihe von schlecht gezeichneten Dolchen gewirkt hatte.
Läßt sich nicht operieren.
Wenn sich dieser bösartige Zellenhaufen irgendwo am Rand von Charlies Gehirn.befunden hätte, wäre es ein leichtes gewesen, ihn mit einer kleineren Operation zu entfernen.
Kein Schweiß, kein Streß, keine Schmerzen am Herzen, wie sie als kleine Jungen immer gesagt hatten. Aber er war nun mal mitten im Gehirn entstanden und wuchs mit jedem Tag.
Wenn sie es mit dem Messer oder dem Laserstrahl probierten oder versuchten, die Zellen durch Kälte zu zerstören, würde von ihrem Sohn nur ein gesundes, atmendes Stück Fleisch übrigbleiben. Wenn sie aber keins von diesen Dingen ausprobierten, würden sie ihn wohl bald in einen Sarg legen und begraben können.
Dr. Younger hatte ihnen das alles ausführlich erklärt und die Ausweglosigkeit der Situation mit einer Reihe von technischen Redewendungen zu kaschieren versucht, die den Schrecken zunächst etwas dämpften. Aber das hielt nicht lange vor. Mary hatte nur dagesessen und verwirrt den Kopf geschüttelt, aber er hatte alles ganz genau verstanden. Sein erster Gedanke, klar und deutlich und unverzeihlich, war: Gott sei Dank, ist mir das nicht passiert. Dann war dieser seltsame Geschmack zurückgekehrt, und er hatte angefangen, um seinen Sohn zu trauern.
Heute eine Walnuß und morgen die Welt. Das unheimliche Unbekannte. Was gab es da zu verstehen?
Charlie starb im Oktober. Er hinterließ keine dramatischen Abschiedworte. Er hatte vorher drei Wochen im Koma gelegen.
Er seufzte, ging in die Küche und machte sich einen Drink.
Die Dunkelheit belagerte von außen die Küchenfenster. Das Haus wirkte jetzt, da Mary nicht mehr da war, entsetzlich leer. Ständig stolperte er über seine Sachen - alte Schnappschüsse, sein alter Jogginganzug im Schrank, ein paar alte Hausschuhe unter dem Schreibtisch im oberen Zimmer. Es war sehr, sehr schlimm, immer wieder daran erinnert zu werden.
Nach seinem Tod hatte er nie, nie wieder um Charlie geweint, nicht einmal auf seiner Beerdigung. Aber Mary hatte geweint. Wochenlang war sie mit geröteten Augen herumgelaufen. Und schließlich war sie langsam darüber hinweggekommen.
Charlies Tod hatte auch bei ihr Narben hinterlassen, das war nicht zu übersehen. Aber ihre Narben waren äußerlich.
Es gab eine Mary davor und eine Mary danach. Die Mary davor hatte selten Alkohol zu sich genommen, höchstens mal bei den gesellschaftlichen Anlässen, die für seine Karriere wichtig waren. Sie ließ sich dann einen milden Screwdriver mixen und trug ihn den ganzen Abend mit sich herum. Das höchste war ein Grog vor dem Zubettgehen, wenn sie schwer erkältet war, aber das war auch alles. Die Mary danach trank einen Cocktail mit ihm, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und nahm auch oft vor dem Zubettgehen noch einen Drink. Gemessen an normalen Maßstäben war es kein ernsthaftes Trinken, sie trank nie so viel, daß ihr schlecht wurde und sie sich übergeben mußte, aber sie trank doch mehr als vorher. Ein kleiner, wärmespendender Schutzmantel. Genau das, was der Arzt ihr verordnet hätte. Vorher hatte sie selten geweint. Aber nachher weinte sie über die kleinsten Kleinigkeiten, doch nur, wenn sie allein war. Über ein angebranntes Abendessen, über einen Platten am Wagen und damals bei dem Wasserrohrbruch im Keller, als die Heizungsrohre eingefroren waren und der Ölofen ausging, da war sie untröstlich gewesen. Die Mary davor war ein Folkmusik-Fan gewesen - White Folk und Blues, Van Ronk, Gary Davis, Tom Rush, Tom Paxton, Spider John Koerner. Die Mary danach hatte schlichtweg alles Interesse daran verloren. Sie sang jetzt ihren eigenen Blues, klagte ihr Leid auf einer inneren Stereoanlage. Sie hörte auf, über ihre gemeinsame Reise nach England zu reden, die sie für den Fall seiner Beförderung geplant hatten. Sie fing an, ihr Haar zu Hause zu frisieren, und der Anblick einer mit Lockenwicklern vor dem Fernseher sitzenden Mary wurde alltäglich. Sie war es, die von ihren gemeinsamen Freunden bedauert wurde - und er fand das ganz in Ordnung. Er wollte sich selbst bemitleiden und tat es auch, aber insgeheim. Sie war fähig gewesen, ihre Bedürfnisse anzumelden und sich zu nehmen, was man ihr als Trost anbot, und das hatte sie gerettet. Es hatte sie vor den fürchterlichen Gedanken bewahrt, mit denen er sich nächtelang rumplagte. Nach ihrem Schlummertrunk war sie jede Nacht sanft eingeschlafen. Und während sie schlief, hatte er über die seltsame Welt nachgedacht, in der eine kleine Anzahl von bösartigen Gehirnzellen seinen Sohn zerstören und ihn für immer von ihm wegnehmen konnte.
Er hatte sie nie wegen ihrer Heilung gehaßt und sie nie um die Achtung beneidet, die ihr andere Frauen mit Recht entge-genbrachten. Sie betrachteten sie mit den Augen, mit denen ein junger Arbeiter auf den Ölfeldern die narbige, verbrannte Haut im Gesicht oder an den Händen eines alten Veteranen betrachten mochte - mit dem Respekt, den die Unverletzten den ehemals Verwundeten und nun Geheilten entgegen-brachten. Sie hatte ihre Zeit in der Hölle durchgemacht, und diese Frauen wußten das. Aber sie hatte es überwunden. Es hatte ein Davor gegeben, dann die Hölle und dann ein Danach. Und dann war die Zeit Danach-Danach gekommen, in der sie sich wieder zwei von ihren ehemals vier Frauenclubs angeschlossen hatte. Sie hatte wieder mit ihrem Makramee angefangen (er besaß einen Gürtel, den sie im letzten Jahr gearbeitet hatte, eine wundervoll geknüpfte Kreation mit einer schweren Silberschnalle und seinem Monogramm BGD in der Mitte) und sich nachmittags vor den Fernseher gesetzt und sich die Seifenopern und Merv Griffin im Gespräch mit seinen Berühmtheiten angesehen.