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Und was war jetzt? fragte er sich, als er mit seinem Drink ins Wohnzimmer zurückging. Danach-Danach-Danach? Es kam ihm so vor. Eine neue Frau, eine schöne, gesunde Frau, die sich aus der Asche erhoben hatte, die er so ungestüm aufgewühlt hatte. Der alte Ölfeldarbeiter mit seinen Narben blieb zwar, aber er erlangte ein neues, gewinnendes Aussehen. War Schönheit nur so tief wie die Haut? Nein, Schönheit lag in den Augen des Betrachters, und sie konnte sehr, sehr tief sein.

Seine Narben waren alle innerlich. In den langen Nächten nach Charlies Tod hatte er jede seiner Wunden einzeln betrachtet, hatte sie mit der morbiden Faszination, mit der ein Mann seinen Stuhl auf Blutspuren untersucht, katalogisiert.

Er hätte es so gern gesehen, daß Charlie im Baseballteam der Schule mitspielte. Er hätte seine Zeugnisse sehen und mit ihm darüber reden wollen. Er hätte ihm wieder und wieder sagen wollen, daß er endlich sein Zimmer aufräumen solle.

Er hätte sich um die Mädchen Sorgen machen wollen, mit denen Charlie ausging, um die Freunde, die er sich aussuchte, um seine seelische Verfassung. Er hätte zu gerne gesehen, was aus seinem Sohn geworden wäre und ob sie immer Freunde geblieben wären. Und dann waren ein paar bösartige Zellen zwischen sie getreten, nicht größer als eine Walnuß, und hatten sie wie eine düstere, habgierige Frau voneinander getrennt.

Mary hatte gesagt: Er war immer dein Sohn.

Das stimmte. Sie hatten beide so gut zueinander gepaßt, daß Namen völlig überflüssig und daß Worte wie mein und dein fast ein bißchen anstößig waren. So waren sie zu Fred und George geworden, ein Komikerpaar, zwei Glorreiche Halunken gegen die ganze Welt.

Wenn eine Anhäufung von ein paar bösartigen Zellen nicht größer als eine Walnuß all das zerstören konnte, diese intimen Dinge, die man kaum richtig ausdrücken konnte, die so persönlich waren, daß man ihre Existenz kaum vor sich selbst einzugestehen wagte, was blieb dann noch übrig? Wie konnte man dann je das Vertrauen ins Leben zurückgewinnen? Wie konnte man dann glauben, daß sie mehr Bedeutung gehabt hatten als eine Autokarambolage am Wochenende?

All das war tief in ihm verborgen, und er war sich eigentlich nie dessen bewußt geworden, wie tief, wie unabänderlich diese Gedanken ihn verändert hatten. Und jetzt lag alles offen vor ihm, wie eine obszöne, ausgekotzte Masse auf dem Kaffeetisch, nach Verdauungssäften stinkend und voller unverdauter Nahrungsklumpen. Wenn die Welt tatsächlich nur eine Karambolage war, wieso hatte er dann kein Recht, einfach aus seinem Wagen zu steigen? Aber was kam danach?

Das ganze Leben schien eine einzige Vorbereitung auf die Hölle zu sein.

Er bemerkte, daß er seinen Drink unbewußt in der Küche in den Ausguß gegossen hatte; er war mit einem leeren Glas ins Wohnzimmer gekommen.

31. Dezember 1973

Er war noch zwei Häuserblocks von Wally Hamners Haus entfernt, als er in seine Jackentasche griff, um nachzusehen, ob er noch ein paar Pfefferminzbonbons hatte. Statt dessen fand er eine kleine, zusammengeknüllte Aluminiumkugel, die im stumpfen, grünen Licht des Armarturenbrettes aufleuchtete. Er betrachtete sie mit einem kurzen, abwesenden Blick und wollte sie schon in den Aschenbecher werfen, als ihm wieder einfiel, was sie enthielt.

In Gedanken hörte er Olivias Stimme wieder: Synthetisches Meskalin. Man nennt es Produkt Vier. Sehr starkes Zeug. Er hatte es total vergessen.

Er steckte die Kugel in die Jackentasche zurück und bog in Walter Hamners Straße ein. Auf beiden Straßenseiten waren in langen Reihen Wagen geparkt. Das sah Walter ähnlich - er würde sich nie mit einer einfachen Party abgeben, wenn eine große Massenfummelei in Aussicht stand. Das Prinzip des Freudenschubs nannte er das. Er behauptete immer, daß er dieses Prinzip eines Tages patentieren lassen und Handbücher herausgeben würde, wie man es anzuwenden hatte.

Seine Idee, die dahintersteckte, lautete etwa folgendermaßen: Wenn man nur genug Leute auf engem Raum zusammenpferchte, waren sie gezwungen, sich zu vergnügen - sie wurden ›hineingeschoben‹. Als Walter diese Theorie einmal vor ihnen in einer Bar ausgeführt hatte, hatte er das mit einer lynchenden Menge verglichen. »Na seht ihr«, hatte Walter darauf ungerührt geantwortet. »Bart hat meine Theorie soeben bewiesen.«

Er fragte sich, was Olivia wohl gerade machte. Sie hatte nicht wieder versucht, ihn anzurufen, obwohl er wahrscheinlich schwach geworden wäre und den Anruf entge-gengenommen hätte. Vielleicht war sie gerade so lange in Las Vegas geblieben, bis das Geld angekommen war, und hatte sich dann in einen Bus nach …? gesetzt. Nach Maine vielleicht? Würde sich jemand mitten im Winter in Las Vegas in einen Bus nach Maine setzen? Sicher nicht.

Man nennt es Produkt Vier. Sehr starkes Zeug.

Er parkte den Wagen hinter einem sportlichen roten GTX mit schwarzen Rennstreifen an den Seiten und stieg aus. Der Silvesterabend war klar und bitterkalt. Am Himmel hing eine kühle Mondsichel, die aussah, als hätten Kinder sie aus gelbem Papier ausgeschnitten. Die Sterne funkelten in verschwenderischer Fülle wie Pailletten. Sein Atem hing als helle Wolke in der dunklen Luft.

Als er noch drei Häuser von Wallys Wohnung entfernt war, hörte er schon die Baßtöne der Stereoanlage. Die spielten mal wieder verrückt. Wallys Partys hatten so etwas an sich, dachte er, Freudenschub oder nicht. Man konnte in der besten Absicht bei ihm aufkreuzen, nur auf einen Sprung hereinzuschauen, man blieb immer und betrank sich bei ihm, bis man silberne Glöckchen im Kopf klingeln hörte, die sich am nächsten Morgen in bleierne Kirchenglocken verwandelten. Die leidenschaftlichsten Rockmusik-Hasser tanzten letztendlich Boogie in seinem Wohnzimmer, wenn alle so betrunken waren, daß Wally die alten Gassenhauer aus den Fünfzigern und Sechzigern auskramte und sie in Nostalgie und Jugenderinnerungen versanken. Sie soffen und tanzten Boogie, tanzten Boogie und soffen, bis sie alle vor Erschöpfung hechelten wie kleine Hunde.

Auch heute würden sich diverse Ehehälften unterschiedlicher Paare in der Küche küssen, würde mancher Körper Zentimeter um Zentimeter erforscht werden, würde man die Mauerblümchen mit Gewalt aus ihren Ecken reißen, und manch einer, der sich normalerweise nie betrank, würde am Neujahrsmorgen mit einem fürchterlichen Kater aufwachen und sich entsetzt daran erinnern, wie er mit einem Lampen-schirm auf dem Kopf durch die Menge getanzt war und dabei laut getönt hatte, er würde seinem Chef endlich mal die Meinung sagen. Wally schien die Leute zu solchen Sachen zu in-spirieren, nicht mit bewußter Anstrengung, sondern einfach dadurch, daß er Wally war - und eine Silvesterparty war schließlich nicht irgendeine Party.

Er ertappte sich dabei, wie er die parkenden Wagenreihen nach Stephan Ordners grünem Delta 88 absuchte, konnte ihn aber nirgends entdecken.

Als er sich dem Haus näherte, vereinigte sich der Rest der Bandklänge mit den Baßtönen, und er hörte Mick Jagger kreischen:

Ooooh, children -

It’s just a kiss away,