Kiss away, kiss away …
Das Haus war hell erleuchtet - Scheiß auf die Energiekrise -, abgesehen vom Wohnzimmer natürlich, in dem während der langsamen Nummern das große Schmusen stattfand. Durch das Dröhnen der voll aufgedrehten Lautsprecher konnte er gut über hundert in fünfzig Unterhaltungen verwickelte Stimmen hören, als sei der Turm von Babel eben erst eingestürzt.
Wenn es Sommer (oder wenigstens Herbst) gewesen wäre, hätte es ihm wohl mehr Spaß gemacht, einfach draußen stehenzubleiben und dem ganzen Zirkus zuzuhören. Er hätte die Entwicklung bis zum Höhepunkt und den allmählichen Ausklang registriert. Plötzlich sah er sich selbst - eine schreckliche, angsteinflößende Vision - auf Wally Hamners Rasen stehen und eine EEG-Aufzeichnung in den Händen halten, die die unregelmäßige, gezackte Linie eines kranken Gehirns zeigte; die Monitoraufzeichnung eines gigantischen Partygehirntumors. Er schauerte und steckte die Hände in die Taschen, um sie zu wärmen.
Seine rechte Hand fand die Aluminiumkugel wieder, und er holte sie heraus. Neugierig wickelte er sie trotz der Kälte, die ihm mit stumpfen Zähnen in die Finger biß, aus. Es war eine kleine lilafarbene Pille, die auf den Nagel seines kleinen Fingers paßte, ohne die Ränder zu berühren. Viel kleiner als, sagen wir mal, eine Walnuß. Konnte ihn ein so kleines Etwas tatsächlich klinisch verrückt machen? Konnte es ihn Dinge sehen lassen, die nicht existierten, ihm Gedanken eingeben, die er noch nie gedacht hatte? Konnte es die Auswirkungen, die die tödliche Krankheit seines Sohnes bei ihm ausgelöst hatte, aufheben?
Beinahe zerstreut steckte er die Pille in den Mund. Sie schmeckte nach nichts. Er schluckte sie hinunter.
»BART!« schrie eine Frau. »BART DAWES!« Sie hatte ein schulterfreies schwarzes Abendkleid an und hielt einen Martini in der Hand. Ihre dunklen Haare waren zu einer Partyfrisur aufgetürmt und wurden von einem glitzernden, mit falschen Diamanten besetzten Band zusammengehalten.
Er hatte das Haus durch die Küchentür betreten. Die Küche war gesteckt voll. Es war erst halb neun, die Flutwelle hatte also noch nicht eingesetzt. Die Flutwelle war eine weitere von Wallys Partytheorien: wenn eine Party fortschritt, so glaubte er, verteilten die Leute sich in allen vier Ecken des Hauses. »Die Mitte trägt nicht«, hatte Wally weise lächelnd erklärt. »Das habe ich von T. S. Eliot.« Angeblich hatte Wally mal einen Gast oben auf dem Dachboden gefunden, achtzehn Stunden, nachdem die Party vorbei war.
Die Frau in dem schwarzen Abendkleid küßte ihn warmherzig auf die Lippen und preßte ihren massigen Busen sanft gegen seine Brust. Dabei verschüttete sie etwas Martini auf den Boden.
»Hi«, sagte er. »Wer sind Sie?«
»Tina Howard, Bart. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Klassenfahrt?«Sie fuchtelte ihm mit einem langen,dolchförmigen Fingernagel unter der Nase herum. »Du BÖSER Junge!«
»DM bist Tina? Bei Gott, du bist es!« Er verzog seinen Mund zu einem verdutzten Lächeln. Das war noch etwas, das Wallys Partys auszeichnete: es tauchten immer wieder Leute aus der eigenen Vergangenheit auf. Wie alte Fotografien. Der beste Freund aus dem Nachbarviertel (vor dreißig Jahren!); das Mädchen, das man im College beinahe mal aufs Kreuz gelegt hätte; der Typ, mit dem man vor achtzehn Jahren mal in den Ferien zusammen gearbeitet hatte.
»Aber ich heiße jetzt Tina Howard Wallace«, fuhr die Frau im schwarzen Abendkleid fort. »Mein Mann muß sich hier irgendwo rumtreiben …« Sie sah sich suchend um, verschüttete noch etwas Martini und trank den Rest schnell aus, bevor er ihr abhanden kam. »Ist das nicht SCHRECKLICH? Ich muß ihn verloren haben.«
Sie musterte ihn mit einem warmen, abschätzenden Blick, und er konnte es fast nicht glauben, daß diese Frau das Mädchen sein sollte, das ihn zum ersten Mal mit weiblichem Fleisch in Berührung gebracht hatte - die Klassenfahrt der Grover Cleveland Highschool hatte vor zirka hundertneun Jahren stattgefunden. Er hatte ihre Brust durch die weiße Baumwollbluse streicheln dürfen, als …
»Cotter’s Stream«, sagte er laut.
Sie wurde rot und kicherte. »Ah, du erinnerst dich also.«
Sein Blick fiel in einem vollkommen unfreiwilligen Reflex auf ihren Busen, und sie jauchzte vor Vergnügen. Wieder lächelte er sie hilflos an. »Wie ich sehe, vergehen die Jahre schneller, als wir …«
»Bart!« rief Wally Hamner über das allgemeine Partygebrabbel hinweg. »He, alter Kumpel, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«
Er kam in seinem ebenfalls zu patentierenden, gewandten Partyzickzack auf ihn zu, ein dünner, beinahe glatzköpfiger Mann in einem tadellos sitzenden gestreiften Hemd Jahrgang 1962 und mit einer Hornbrille auf der Nase. Er schüttelte Walters ausgestreckte Hand. Sein Händedruck war immer noch so fest, wie er ihn in Erinnerung hatte.
»Wie ich sehe, hast du Tina schon getroffen«, sagte Walter.
»Himmel, wir kennen uns schon seit Jahrzehnten«, antwortete er und lächelte Tina verlegen zu.
»Aber sag das ja nicht meinem Mann, du böser Junge«, kicherte Tina. »Entschuldigt mich bitte. Wir sehen uns ja noch, nicht wahr, Bart?«
»Klar«, sagte er.
Sie schlängelte sich um eine Gruppe, die sich um einen Tisch mit Partyhappen versammelt hatte, herum und verschwand im Wohnzimmer. Er nickte ihr noch einmal zu und fragte Walter: »Sag mal, wo gabelst du die Leute immer auf?
Das war mein erstes Mädchen. Ich komme mir vor wie bei: ›Das war mein Leben.‹«
Walter zuckte bescheiden die Achseln. »Gehört alles zum Freudenschub, mein Junge.« Er deutete auf die braune Papiertüte unter seinem Arm. »Was hast du denn da in diesem schlichten braunen Beutel?«
»Southern Comfort. Ich hoffe, du hast etwas Ginger Ale da.«
»Natürlich«, antwortete Walter und verzog das Gesicht.
»Willst du wirklich dieses widerliche Zeug trinken? Ich hatte dich immer für einen Scotchmann gehalten.«
»Insgeheim bin ich immer ein Southern-Comfort-Ginger-Ale-Mann gewesen. Jetzt bin ich endlich entlarvt.«
Walter lachte. »Mary treibt sich hier auch irgendwo rum.
Sie hat vorhin nach dir Ausschau gehalten. Hol dir einen Drink, und dann gehen wir sie suchen, ja?«
»Guter Vorschlag.«
Er kämpfte sich durch die Küche und begrüßte Leute, die ihm irgendwie bekannt vorkamen, sich an ihn aber überhaupt nicht zu erinnern schienen, antwortete anderen, die ihn zuerst ansprachen, deren Gesichter er aber nicht kannte.
Zigarettenrauch wälzte sich in majestätischen Schwaden durch den Raum. Gesprächsfetzen drangen in seine Ohren und verklangen ebenso rasch wieder wie diverse Radiostationen, wenn man auf der Suche nach einem bestimmten Sender war. Sie waren laut und bedeutungslos:
… Freddy und Jim hatten ihre Stundenpläne vergessen, also habe ich …
… sagte vorhin, daß seine Mutter kürzlich gestorben ist, also kriegt er nachher bestimmt einen Weinkrampf, wenn er zuviel trinkt …
…als er also die Farbe runtergekratzt hatte, stellte er fest, daß er ein wirklich schönes Stück erwischt hatte, vielleicht noch von vor der Revolution …
… da kam doch tatsächlich dieser kleine Jude an die Tür und wollte mir Enzyklopädien verkaufen …
… sehr chaotisch; er willigt wegen der Kinder nicht in die Scheidung ein und säuft wie ein Loch …
… ein furchtbar schönes Kleid …
… so betrunken, daß er voll über den Tisch gekotzt hat, als die Kellnerin die Rechnung brachte …
Vor dem Herd und der Spüle stand ein langer Tisch, auf dem sich schon eine Unmenge von geöffneten Schnapsflaschen und Gläsern in verschiedenen Größen, manche halb ausgetrunken und abgestellt, befanden. Die Aschenbecher waren überfüllt. In der Spüle standen drei Eiskübel voller Eiswürfel.