Er war auf seinem Trip. Wenn die Leute wüßten, wie er das Wort Kristall dachte (krrrrissstalll), sie würden die Köpfe zu-sammenstecken und über ihn tuscheln: Ja, seht nur, er ist wirklich verrückt. Ein totaler Spinner! Spinner, das war noch so ein schönes Wort. Plötzlich wünschte er sich, daß Sal Magliore hier wäre. Er und der Einäugige Sally würden sich zusammensetzen und alle Aspekte der Organisation von Hehlergeschäften durchdiskutieren. Sie würden über alte Huren und Explosionen reden. Vor seinem inneren Auge sah er sich und Sally Magliore in einem italienischen ristorante mit dunkelge-täfelten Wänden sitzen und an einem rissigen Holztisch Pizza essen, während im Hintergrund leise Violinenklänge aus dem Film Der Pate aus der Stereoanlage säuselten. Es war ein verschwenderischer Technicolorfilm, in den er sich hin-einfallen ließ wie in ein warmes Schaumbad.
»Krrrrissstalll«, sagte er leise zu sich selbst und grinste. Es schien, als hätte er schon stundenlang so dagesessen und über diese Dinge nachgedacht, aber die Asche an seiner Zigarette war nicht einen Millimeter weitergewachsen. Es war erstaunlich. Er zog noch einmal.
»Bart?«
Er blickte auf. Es war Mary. Sie hatte ihm einen Happen zu essen mitgebracht. Er lächelte ihr zu. »Setz dich. Ist das für mich?«
»Ja.« Sie reichte ihm das Sandwich. Es war ein kleines, dreieckiges Stückchen Brot mit einem rosa Fleck in der Mitte.
Ihm fiel plötzlich ein, daß Mary ängstlich, ja entsetzt reagieren würde, wenn sie wüßte, daß er sich auf einem Trip befand. Sie würde sofort den Notarzt rufen, die Polizei, Gott weiß wen. Er mußte sich also normal verhalten. Aber die Vorstellung von Normalität fand er ausgesprochen seltsam.
»Ich werde es später essen«, sagte er und steckte das Sandwich in seine Jackentasche.
»Bart? Bist du betrunken?«
»Nur ein bißchen«, antwortete er. Er konnte die Poren ihrer Gesichtshaut sehen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so klar und deutlich gesehen zu haben. So viele kleine Löcher, als ob Gott ein Bäcker und ihr Gesicht eine Kuchenkruste wäre. Er kicherte, und als sie die Stirn runzelte, sagte er verschwörerisch: »Erzähl’s nicht weiter.«
»Was?« Sie war ehrlich verblüfft.
»Das mit dem Produkt Vier.«
»Bart, was, in Gottes Namen, hast du …«
»Ich muß mal aufs Klo«, sagte er. »Bin gleich zurück.« Er stand auf und ging weg, ohne sich noch einmal nach ihr umzublicken, aber er spürte die Strahlen ihrer Verwirrung hinter ihm hereilen wie die Hitzestrahlen eines Mikrowellenher-des. Wenn er sich nicht umdrehte, würde er sich möglicher-weise nicht verraten. In dieser besten aller möglichen Welten war ja alles möglich, selbst krrristallene Wendeltreppen. Er lächelte selbstzufrieden. Das Wort war schon ein alter Freund geworden.
Der Trip zum Badezimmer war eine Odyssee, eine Safari.
Der Partylärm hatte einen zyklischen Rhythmus angenommen, er schien regelmäßig ANZUSCHWELLEN und alle DREI SILBEN wieder ABZUSCHWELLEN, und selbst die STEREOANLAGE wurde immer wieder LAUTER und LEISER. Er murmelte ein paar Sätze zu Leuten, die er zu kennen glaubte, weigerte sich jedoch, an einer Unterhaltung teilzu-nehmen. Wenn man ihn ansprach, deutete er nur lächelnd auf seine Hosenklappe und ging vorbei. Fragende Gesichter sahen ihm nach. Warum gab es nie eine Party voller Fremder, wenn man so etwas brauchte? schimpfte er im stillen.
Das Klo war besetzt. Er wartete, wie es schien, stundenlang, und als er endlich drankam, konnte er nicht pinkeln, obwohl er glaubte, daß er es dringend nötig hätte. Er betrachtete die Wand hinter dem Klo und hatte das Gefühl, daß sie sich in gleichmäßigem Dreiertakt nach innen und nach außen wölbte. Obwohl er nichts gemacht hatte, spülte er für den Fall, daß draußen jemand stand und zuhörte. Das Wasser wirbelte in dunkelrosa Strudeln in der Kloschüssel. Es sah aus, als habe der letzte Besucher Blut abgelassen. Beunruhigend.
Er verließ das Badezimmer, und der Partylärm schlug ihm mit aller Wucht entgegen. Gesichter kamen näher und verschwanden wie segelnde Luftballons. Aber die Musik war sehr schön. Eine Elvis-Platte. Guter alter Elvis. Sing weiter, Elvis, sing weiter.
Marys Gesicht tauchte vor ihm auf, besorgt, verärgert.
»Bart, was ist mit dir los?«
»Mit mir? Nichts.« Er war verwundert, äußerst verwundert. Die Worte kamen ihm in sichtbaren Musiknoten aus dem Mund. »Ich habe Halluzinationen«, sagte er laut, aber er sprach mehr zu sich selbst.
»Bart, was hast du eingenommen?« Sie sah jetzt wirklich ängstlich aus.
»Meskalin«, antwortete er.
»Mein Gott, Bart! Drogen? Warum?«
»Warum nicht?« erwiderte er, nicht, weil er flippig sein wollte, sondern weil ihm so schnell keine andere Antwort einfiel. Wieder flogen die Worte in Noten aus seinem Mund, einige davon hatten sogar kleine Fähnchen.
»Soll ich dich zu einem Arzt bringen?«
Er sah sie überrascht an und ließ sich den Vorschlag durch den Kopf gehen, um zu prüfen, ob er eine versteckte Neben-bedeutung haben könnte; freudianische Erinnerungen an die Klapsmühle. Er mußte wieder kichern, und sein Lachen schwebte in Notenlinien vor seinem Gesicht, in die Kristallnoten mit Notenschlüssel, Pausenzeichen und allem Drum und Dran eingezeichnet waren.
»Was soll ich bei einem Arzt?« fragte er, jedes Wort vorsichtig wählend. Das Fragezeichen war eine hochgestellte Viertelnote. »Es ist genauso, wie sie gesagt hat. Weder gut noch schlecht. Einfach interessant.«
»Wer hat das gesagt?« wollte sie wissen. »Wer, Bart? Von wem hast du das Zeug gekriegt?« Ihr Gesicht veränderte sich. Es wurde ganz spitz und nahm einen reptilienartigen Ausdruck an. Mary als billiger Schundromandetektiv, der seine Schreibtischlampe direkt auf die Augen des Verdächtigen richtet - Na los, McGonigal, wie wollen Sie’s haben, auf die sanfte oder auf die harte Tour? Aber es kam noch schlimmer.
Mary erinnerte ihn auf unangenehme Weise an die Geschichten von H. P. Lovecraft, die er als Kind gelesen hatte, besonders die Chtulu-Mythen, in denen vollkommen normale Menschen auf Verlangen des Ältestenrates in fischartige, kriechende Wesen verwandelt wurden. Ihre Gesichtshaut wurde auf einmal schuppig, und sie sah aus wie ein Aal.
»Nicht so wichtig«, antwortete er ängstlich. »Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen; ich belästige dich ja schließlich auch nicht.«
Sie zuckte zusammen. Ihr Gesicht wurde wieder das alte Marygesicht, das ihn jetzt verletzt und mißtrauisch ansah.
Sie tat ihm leid. Die Party brandete in lauten Wogen um sie herum. »Wie du willst, Bart«, sagte sie ruhig. »Du kannst dir auf jede Weise schaden, die dir gefällt, aber bring mich bitte nicht in Verlegenheit. Darf ich wenigstens das von dir verlangen?«
»Ja, natürlich, du k …«
Aber sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie drehte sich um und ging in die Küche, ohne sich noch einmal nach ihm um-zusehen. Es tat ihm leid, aber er war auch erleichtert. Doch was würde passieren, wenn jemand anderes sich mit ihm unterhalten wollte? Sie würden es ja alle sofort merken. Er konnte im Augenblick keine normale Unterhaltung führen.
Er konnte den Leuten kaum vormachen, daß er nur betrunken sei.
»Rrrriet«, sagte er und rollte das R genüßlich zwischen Gaumen und Zunge. Diesmal kamen die Noten in einer Reihe von Achtelnoten, die mit ihren Fähnchen auf einer einzigen Notenlinie entlangeilten. Er konnte die ganze Nacht Noten produzieren und dabei glücklich sein, es würde ihm nichts ausmachen. Aber nicht hier, wo jeder, der gerade vorbeikam, ihn ansprechen konnte. Er brauchte einen ruhigen Ort, an dem er sich selbst denken hören konnte. In dem Partylärm hatte er das Gefühl, als stünde er hinter einem Was-serfall. Er war zu laut, um dagegen anzudenken. Er wollte sich lieber einen stillen Tümpel suchen, vielleicht bei einem Radio. Er hatte das Gefühl, daß Musik seine Gedanken beflü-