»Um Hilfe?«
»Ich glaube, ja.«
»Haben Sie ihr geholfen?«
»Ich weiß es nicht.« Er lächelte angestrengt. »Vater, erzählen Sie mir was über meine Seele.«
Drake zuckte zusammnen. »Ich bin nicht Ihr Vater.«
»Na gut, dann lassen Sie’s.«
»Was wollen Sie über Ihre ›Seele‹ hören?«
Er sah auf seine Finger hinunter. Er konnte Blitze aus den Spitzen hervorschießen lassen, wenn er es wollte. Es verlieh ihm ein trunkenes Machtgefühl. »Ich will wissen, was mit ihr geschieht, wenn ich Selbstmord verübe.«
Drake rutschte unruhig im Sessel hin und her. »Sie sollten nicht an Selbstmord denken, wenn Sie sich auf einem Rauschgifttrip befinden. Es ist das Zeug, das aus Ihnen redet, nicht Sie selber.«
»Ich rede«, sagte er aufgebracht. »Antworten Sie mir.«
»Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, was mit Ihrer Seele geschieht, wenn Sie Selbstmord begehen. Aber ich weiß, was aus Ihrem Körper wird. Er wird verrotten.«
Erschrocken schaute er wieder auf seine Hände hinunter.
Als ob sie den Gedanken bestätigen wollten, schienen sie sich vor seinen Augen aufzulösen und zu verfaulen. Er mußte an eine Geschichte von Edgar Allan Poe denken: The Strange Case of M. Valdemar. Was für eine Nacht, Poe und Lovecraft! Möchte jemand einen A. Gordon Pym? Oder wie war’s mit dem verrückten Araber Abdul Allhazred? Beunruhigt blickte er wieder auf, aber er war noch nicht gänzlich entmutigt.
»Wie geht es Ihrem Körper?« erkundigte Drake sich.
»Häh?« Er runzelte die Stirn und versuchte, einen Sinn in der Frage zu entdecken.
»Es gibt immer zwei Trips«, erklärte Drake. »Einen im Kopf und einen im Körper. Ist Ihnen schlecht? Haben Sie Schmerzen? Fühlen Sie sich sonst irgendwie krank?«
Er befragte seinen Körper. »Nein«, antwortete er. »Ich fühle mich nur … aufgekratzt.« Er mußte über das Wort lachen, und Drake lächelte. Es beschrieb seinen Zustand ziemlich gut. Obwohl sein Körper in Ruhestellung war, schien er sehr aktiv zu sein. Sehr leicht, aber nicht ätherisch. Er hatte sein Fleisch noch nie so intensiv gespürt. Es war ihm nie bewußt gewesen, wie sehr die geistigen und körperlichen Prozesse miteinander verwoben waren. Untrennbar. Man konnte nicht einfach das eine aus dem anderen herausschälen. Du bist damit fest verwachsen, Baby. Integration. Entropie. Die Idee strahlte durch ihn hindurch wie ein rascher tropischer Sonnenaufgang. Er saß da und kaute sie in dem Licht seiner gegenwärtigen Situation durch, versuchte, ein System in dem Ganzen herauszufinden, wenn es eins gab.
Aber …
»Aber da ist noch die Seele«, sagte er laut.
»Was ist mit Ihrer Seele?« fragte Drake freundlich.
»Wenn Sie das Gehirn töten, töten Sie den Körper und umgekehrt«, erklärte er. »Aber was geschieht mit der Seele? Das ist die verdeckte Karte, Va … Mr. Drake.«
»In diesem Schlaf des Todes, welche Träume mögen da kommen? Hamlet, Mr. Dawes.«
»Glauben Sie, daß die Seele weiterlebt? Gibt es ein Leben nach dem Tod?«
Drakes Augen wurden dunkel. »Ja«, sagte er. »Es gibt ein Leben nach dem Tod … in irgendeiner Form.«
»Und glauben Sie, daß Selbstmord eine Todsünde ist, die die Seele in die Hölle verdammt?«
Drake schwieg eine lange Weile. Dann sagte er: »Selbstmord ist falsch. Das glaube ich von ganzem Herzen.«
»Das beantwortet aber nicht meine Frage.«
Drake stand auf. »Ich habe nicht die Absicht, Ihre Frage zu beantworten. Ich habe mit der Metaphysik nichts mehr zu tun. Ich bin jetzt Laie. Möchten Sie auf die Party zurück?«
Er dachte an den Lärm und Trubel und schüttelte den Kopf.
»Möchten Sie nach Hause?«
»Ich könnte nicht fahren. Ich hätte Angst.«
»Ich werde Sie fahren.«
»Würden Sie das tun? Aber wie kommen Sie zurück?«
»Ich werde mir bei Ihnen ein Taxi rufen. In der Silvesternacht ist immer leicht ein Taxi zu kriegen.«
»Das wäre schön«, sagte er dankbar. »Ich glaube, ich wäre jetzt ganz gern allein. Ich möchte fernsehen.«
»Sind Sie sicher, daß Sie allein zu Hause sind?« fragte Drake ernst.
»Wer ist das schon?« fragte er genauso ernst zurück, und beide lachten.
»Na gut. Möchten Sie sich noch verabschieden?«
»Nein. Gibt es hier eine Hintertür?«
»Ich denke, wir werden eine finden.«
Auf dem Heimweg redeten sie nicht viel. Die vorbeifliegen den Straßenlichter regten ihn mehr auf, als er eigentlich ertragen konnte. Als sie an der Baustelle vorbeikamen, fragte er Drake, was er davon hielt.
»Sie bauen immer größere Straßen für benzinfressende Teufel, während die Kinder auf der Straße verhungern«, antwortete Drake grimmig. »Was ich davon halte? Ich finde, es ist ein gemeines Verbrechen.«
Er wollte Drake schon von seinen Benzinbomben, vom brennenden Kran und dem ausgebrannten Baustellenbüro erzählen, besann sich dann aber. Drake könnte es für eine von seinen Halluzinationen halten. Oder, schlimmer noch, er könnte es ihm glauben.
Der Rest des Abends blieb in seiner Erinnerung nicht ganz klar. Er lotste Drake zu seinem Haus. Drakes Kommentar war, daß wohl alle Anwohner außerhalb feierten oder sehr früh zu Bett gegangen seien. Dann bestellte er ein Taxi. Sie sahen zusammen fern, ohne sich weiter zu unterhalten - Guy Lombardo sang im Waldorf-Astoria, begleitet von den süßesten Sphärenklängen. In seinen Augen sah Guy Lombardo eindeutig wie ein Frosch aus.
Um Viertel vor zwölf kam das Taxi. Drake fragte ihn nochmals, ob er allein zurechtkomme.
»Ja, ich glaube, ich komme jetzt wieder runter.« Das stimmte. Die Halluzinationen wurden langsam weniger und verschwanden wieder in seinem Hinterkopf.
Drake öffnete die Haustür und schlug den Mantelkragen hoch. »Denken Sie nicht mehr an Selbstmord. Es ist feige.«
Er nickte lächelnd, diesen Rat weder abweisend noch annehmend. Er nahm ihn einfach hin wie alles in der letzten Zeit. »Ein gutes neues Jahr«, sagte er.
»Ihnen auch, Mr. Dawes.«
Das Taxi hupte ungeduldig.
Drake ging hinaus, und er folgte dem gelben Taxilicht mit den Augen, als es wegfuhr.
Dann ging er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich wieder vor den Fernseher. Sie hatten jetzt von Guy Lombardo auf den Times Square umgeschaltet. Die leuchtende Kugel war schon oben auf dem Allis-Chalmers-Gebäude montiert und wartete darauf, ihr strahlendes Licht über das Jahr 1974 zu ergießen. Er war müde, ausgelaugt, schläfrig.
Die Lichtkugel würde nun bald fallen, und er segelte mit einem verdammten Trip ins neue Jahr hinüber. Irgendwo in Amerika schob jetzt ein Neujahrsbaby seinen plazentaverschmierten Kopf aus dem Schoß seiner Mutter und begab sich damit in die beste aller möglichen Welten. Auf Walter Hamners Party würden alle Gäste jetzt ihr Glas erheben und langsam mitzählen. Man würde gute Vorsätze für das neue Jahr fassen, die sicher nicht nutzbringender als nasses Klopapier waren. Spontan faßte er seinen eigenen Vorsatz und sprang trotz seiner Müdigkeit auf die Füße. Sein Körper schmerzte, und seine Wirbelsäule fühlte sich an, als wäre sie aus Glas - das mußte schon der Kater sein. Er ging in die Küche und nahm den Hammer vom Regal. Als er damit ins Wohnzimmer zurückkam, rollte die Lichtkugel gerade den Pfahl hinunter. Der Bildschirm zeigte ein geteiltes Bild - auf der einen Seite war der Times Square zu sehen, auf der anderen die lustige Gesellschaft im Waldorf, die den Countdown mitsang: »Acht … sieben … sechs … f ü n f … « Eine fette Lady entdeckte sich selbst auf dem Monitor, lächelte verdutzt und winkte dann ihrem Lande zu.
Der Jahreswechel, dachte er. Absurd, aber er spürte plötzlich eine Gänsehaut auf seinen Armen.