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»Und du hast es getan.«

Sie stritt seine Behauptung in einem leicht verletzten Tonfall ab, aber er konnte sich noch sehr genau an die Szene erinnern. Die Frau, die den Kindergarten leitete, war eine Mrs. Ricker. Sie hatte ein Staatsdiplom, und sie servierte allen Kindern ein warmes Mittagessen, bevor sie sie um ein Uhr wieder nach Hause schickte. Die Kindergartenräume befanden sich in einem renovierten Kellergeschoß, und er kam sich wie ein Verräter vor, als sie Charlie zwischen sich die Treppe hinunterführten. Wie ein Bauer hatte er sich gefühlt, der seine Kuh streichelt und sie beruhigt, während er sie zur Schlachtbank führt. Sein Charlie war ein wunderschöner Junge gewesen. Blonde Haare, die später etwas dunkler wurden, blaue, wachsame Augen und geschickte Hände, mit denen er schon als kleines Kind viel anfangen konnte. Und da stand er nun stocksteif zwischen ihnen auf der untersten Treppenstufe und beobachtete die anderen Kinder, die durcheinander-schrien und rumrannten, Papier bekritzelten und mit stumpfen Scheren farbige Kartons ausschnitten. Und es waren so viele. Charlie hatte nie verletzlicher ausgesehen als in dem Augenblick, als er die anderen Kinder anstarrte. Es war weder Angst noch Freude in seinen Augen gewesen, nur diese Wachsamkeit, dieses Gefühl, ein Außenseiter zu sein, und er hatte sich nie so sehr als der Vater seines Sohnes empfunden wie in diesem Augenblick. Nie hatte er sich Charlie so nahe gefühlt. Dann war diese Mrs. Ricker auf sie zugekommen und hatte mit dem Lächeln eines Barrakudas zu ihm gesagt:

»Wir werden hier viel Spaß miteinander haben, Chuck.«

Woraufhin er am liebsten aufgeschrien hätte: »Das ist nicht sein Name!« Als sie dann ihre Hand nach ihm ausstreckte und Charlie sie nicht nahm, sondern sie nur anblickte, hatte sie einfach seine Hand genommen und ihn mit sich zu den anderen Kindern gezogen. Bereitwillig war Charlie zwei Schritte mitgegangen, doch dann war er stehengeblieben und hatte sich nach ihnen umgeblickt. »Gehen Sie nur«, hatte Mrs. Ricker mt ruhiger Stimme zu ihnen gesagt. »Er wird sich hier schon zurechtfinden.« Und dann hatte Mary ihn angestoßen und: »Nun komm schon, Bart!« zu ihm sagen müssen, denn er stand wie angewurzelt da und sah seinem Sohn in die Augen, deren Botschaft er nur allzu gut verstand: Wirst du ihnen wirklich erlauben, mir das anzutun, George? Und seine Augen hatten ihm geantwortet: Ich glaube, das werde ich, Freddy. Dann waren Mary und er die Treppe wieder hinaufgestiegen und hatten ihrem Sohn den Rücken gekehrt. Das war das Fürchterlichste, was man einem Kind in so einem Augenblick antun konnte, und Charlie hatte angefangen zu heulen. Aber Mary hatte nicht einmal gezögert, denn die Liebe einer Frau ist eigenartig und grausam und fast immer sehr scharfsichtig. Eine Liebe die voraussieht, ist immer entsetzlich. Mary wußte, daß Weggehen das einzig Richtige sei, und so war sie gegangen und hatte sein Geschrei als einen weiteren Teil seiner kind-lichen Entwicklung überhört. Es gehörte dazu wie Bauchschmerzen und aufgeschürfte Knie. Doch er hatte einen scharfen Schmerz in seiner Brust gespürt, so stark, daß er ihn fast für einen Herzinfarkt gehalten hatte, aber bald darauf war er einfach verschwunden. Er war erschüttert und unfähig, sich den Schmerz zu erklären, aber heute wußte er, daß es sich um einen ganz prosaischen Abschied gehandelt hatte. Die Rücken von den Eltern waren nicht das Schlimmste auf dieser Welt. Viel schlimmer war die Geschwindigkeit, mit der die Kinder sich aus eigenem Antrieb abkehrten und sich ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten - dem Spielen, dem neuen Puzzle, ihrem neuen Freund und schließlich ihrem Tod. Das waren die schrecklichsten Dinge, wie er in der Zwischenzeit erfahren hatte.

Charlie hatte schon lange, bevor er krank wurde, zu sterben angefangen. Und es hatte keine Möglichkeit gegeben, dem Einhalt zu gebieten.

»Bart?« fragte sie jetzt. »Bist du noch da, Bart?«

»Ja, ich bin hier.«

»Was hast du davon, die ganze Zeit über Charlie nachzudenken? Es wird dich noch zerfressen. Du bist sein Gefangener.«

»Aber du bist frei«, erwiderte er. »Ja, das bist du.«

»Soll ich nächste Woche zum Rechtsanwalt gehen?«

»In Ordnung.«

»Es wird keine häßlichen Szenen geben, nicht wahr, Bart?«

»Nein, es wird sehr zivilisiert vor sich gehen.«

»Und du wirst deine Meinung nicht ändern und irgendwie Einspruch erheben?«

»Nein.«

»Ich … ich werde dich wieder anrufen.«

»Du hast gewußt, daß es Zeit war, ihn allein zu lassen, und du hast es getan. Ich wünschte bei Gott, ich hätte deinen Instinkt gehabt.«

»Was?«

»Nichts. Auf Wiedersehen, Mary. Ich liebe dich.« Er stellte fest, daß er das erst gesagt hatte, nachdem der Hörer schon wieder auf der Gabel lag. Er hatte es ganz automatisch gesagt, ohne Gefühle oder besondere Betonung. Aber es war kein schlechtes Ende. Nein, das war es ganz und gar nicht.

18. Januar 1974

Die Stimme der Sekretärin fragte ihn: »Wen darf ich melden?«

»Bart Dawes.«

»Einen Augenblick bitte.«

»Ja, danke.«

Sie schaltete die Leitung um, und er stand mit dem Hörer am Ohr wartend da, tippte mit einem Fuß auf den Boden und blickte durch das Fenster auf die Geisterstadt an der Crestallen Street hinaus. Es war ein strahlend klarer, aber sehr kalter Tag. Die Temperaturen bewegten sich um fünf Grad herum, aber es blies ein kalter Wind, so daß man das Ge-fühl hatte, es wären fünf Grad minus. Der Wind trieb Schnee über die Straße auf das Haus der Hobarts zu, das in brütendem Schweigen an der Straße stand. Eine leere Hülle, die auf den Abbruchkran wartete. Sie hatten sogar die Fensterläden mitgenommen.

Ein Klicken in der Leitung, und er hörte Steve Ordners Stimme: »Hallo, Bart, wie geht es Ihnen?«

»Gut.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe nur angerufen, weil ich wissen wollte, was mit der Wäscherei passiert ist«, antwortete er. »Was hat die Gesellschaft denn nun in bezug auf den Umzug beschlossen?«

Ordner seufzte und sagte dann mit gutwilliger, aber reservierter Stimme: »Dazu ist es doch wohl ein wenig zu spät, oder?«

»Ich habe Sie nicht angerufen, um mich von Ihnen in die Pfanne hauen zu lassen, Steve.«

»Warum nicht? Schließlich habe Sie uns ja alle damit, in die Pfanne gehauen. Aber vergessen wir das. Der Aufsichtsrat hat beschlossen, daß wir uns ganz aus dem industriellen Wäschereigeschäft zurückziehen. Die Waschsalons bleiben natürlich, sie laufen sehr gut. Wir werden den Namen der Kette ändern. In Zukunft heißt sie Handi-Wash.

Wie finden Sie das?«

»Schrecklich«, antwortete er abweisend. »Warum schmeißen Sie Vinnie Mason nicht raus?«

»Vinnie?« fragte Ordner überrascht. »Vinnie macht seine Arbeit ausgezeichnet. Er entwickelt sich zu einem richtigen Mogul. Ich muß schon sagen, soviel Bitterkeit hätte ich bei Ihnen …«

»Na, hören Sie mal, Steve. Vinnies Job hat nicht mehr Zukunft als der Luftschacht einer Mietskaserne. Geben Sie ihm etwas, das sich für ihn wirklich lohnt, oder lassen Sie ihn gehen.«

»Ich glaube kaum, daß Sie das etwas angeht, Bart.«

»Sie haben ihm ein totes Hühnchen um den Hals gehängt; er hat es nur noch nicht bemerkt, weil es noch nicht angefangen hat zu faulen. Er hält es immer noch für sein Abendessen.«

»Soweit ich gehört habe, hat er Sie kurz vor Weihnachten ein wenig zusammengeschlagen.«

»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, und das hat ihm nicht gefallen.«

»Wahrheit ist ein sehr dehnbarer Begriff, Bart. Das sollten Sie doch wohl besser wissen als jeder andere, nach all den Lügen, die Sie mir aufgetischt haben.«

»Das ärgert Sie wohl immer noch, was?«

»Wenn man plötzlich entdecken muß, daß der Mann, den man für einen guten Angestellten gehalten hat, voller Scheiße steckt, ist es nur natürlich, daß einen das ärgert. Ja.«