Ich blieb stehen und starrte ihn an. »Aber .«
»Nein, bitte sage nicht, er sei tot. Ich kenne David, und ich weiß, daß er lebt. Ich kann nicht sagen, warum ich es weiß, aber ich weiß es. Er ist vermißt, ja. Man glaubt, er wäre ertrunken. Und ich muß akzeptieren, was die Akademie sagt. Ich packe daher seine Sachen, um sie an seinen Vater zu schicken ... Willst du etwas sehen, Jim?«
»Vielen Dank, Laddy. Aber ich will nicht neugierig sein.«
»Nein, das hat nichts mit Neugier zu tun, aber es mag interessant sein für dich. Du solltest das Bild anschauen, bevor ich es einpacke.«
Nun ja, warum nicht? Ich begleitete ihn also auf sein Zimmer und sah es sofort. Den Platz an der Wand über dem Kopfende des Bettes kann der Kadett so verwenden, wie er will. Die meisten hängen dort Fotos ihres Mädchens oder ihrer Familie auf, Bilder ihrer Lieblingsschiffe oder Sportidole. Aber über David Crakens Bett hing ein ungerahmtes Aquarell.
Er hatte es selbst gemalt und mit DC rechts unten signiert. Und es stellte eine Tiefsee-Szene dar. Aus einem Wald von Tiefseepflanzen brach eine Kreatur .
Die Vegetation war mir fremd, und auch sonst erschien mir die Szene unglaubhaft. Die dicken Blätter der Pflanzen schienen im dunklen Wasser zu glühen. Die Kreatur hatte einen merkwürdigen langen Hals, ein Maul mit spitzen Fangzähnen und genau den Kopf, den ich über dem Geländer des TiefseeFloßes gesehen hatte.
Als ich das Bild noch genauer anschaute, sah ich, daß es nicht allein war. Auf dem Rücken hockte wie ein Mahut auf einem Elefanten mit einem langen Stachelstock in der Hand eine menschliche Gestalt.
Seeschlangen .
Nein, ich glaubte doch nicht daran. Dieses Bild war etwas, wie es die Sonarleute gesehen zu haben glaubten, wie ich es mir selbst vielleicht vorgesagt, wovon David gesprochen hatte.
Aber die menschliche Gestalt auf dem Rücken des gepanzerten Tieres - nein, das Monstrum war das Phantasiegebilde eines Jungen aus Marinia.
Ich bedankte mich bei Eladio, daß er mir das Bild gezeigt hatte und ging.
Bob war noch immer nicht zurück. Ich ging zum Essen und kam zurück; Bob war noch nicht da. Könnte es sein, daß Trainer Blighman Bob hatte disqualifizieren lassen? Nun, ein Grenzfall war er jetzt ganz gewiß. Jeder von uns mußte jährlich, um auf der Akademie bleiben zu können, besondere Leistungen in einem Tiefsee-Sport aufweisen. In drei von vier Möglichkeiten hatte es Bob nicht geschafft. Jetzt hatten wir nur noch das Marathon-Tiefsee-Schwimmen vor uns. Und wenn er da auch .
Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Ich setzte mich also an den Tisch und begann einen Brief an David Crakens Vater in Marinia. Die Adresse hatte ich von Eladio: Mr. J. Craken, c/o Morgan Wensley, Esq. Kermadec Dome, Marinia.
Natürlich würde die Akademie selbst an den Vater schreiben, aber ich wollte ihm etwas über das Allzuförmliche hinaus sagen. Wenn ich jedoch von der Seeschlange spräche oder vom Zwist mit Cadet Captain Roger Fairfane, so wäre dies sicher sehr töricht.
Ich schrieb also nur, daß ich David zwar noch nicht lange gekannt habe, doch er sei ein tapferer und geschickter Schwimmer gewesen, und er hinterlasse eine sehr bedauerliche Lücke. Falls er irgendwelche Fragen zu stellen habe, möge er mir schreiben.
Ich klebte gerade den Umschlag zu, als Bob kam.
Er sah erschöpft drein, aber nicht besorgt oder betrübt, eher aufgeregt. Ich bestürmte ihn mit Fragen, was geschehen sei, ob es Neues zu Davids Verschwinden gebe.
Er lachte, und ich fühlte mich erleichtert. »Jim, mach dir nicht so viele Sorgen. Nein, es gibt nichts Neues. Natürlich wurde ich wegen David gefragt, doch ich wußte ja nichts.«
»Und dazu hast du so lange gebraucht?«
Er schüttelte den Kopf und sah wieder aufgeregt drein. »Nein, dazu habe ich nicht so lange gebraucht«, antwortete er, und damit hatte sich’s. Mehr erfuhr ich nicht. Ich fragte auch nicht weiter. Aber ganz sicher hatte man ihn durch eine Mangel gedreht.
Vielleicht ging es doch um den Sport, und je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich.
Später erfuhr ich, wie sehr ich danebengeraten hatte.
5. Besuch aus der See
Das war im Oktober.
Wochen vergingen. Von Morgan Wensley, Kermadec Dome, bekam ich eine Bestätigung, daß mein Brief eingegangen sei und an Mr. Craken weitergeleitet werde. Dieser Morgan Wensley fand kein Wort des Bedauerns wegen Davids Verschwinden.
Soweit es um die Akademie ging, hätte David Craken nie existiert. Er wurde ganz einfach gestrichen. Laddy Angel und ich unterhielten uns ein paarmal über ihn, aber das war alles. Wir gehörten nicht der gleichen Crew an, waren nicht einmal im selben Gebäude untergebracht. Wir trafen uns immer seltener. Und fast vergaß ich David.
Wir hatten auch wenig Zeit, über die Vergangenheit nachzubrüten. Unterricht, Inspektionen, Sport, Training - jede Minute wurde ausgenützt, und hatten wir einmal eine Stunde frei, so übten Bob und ich draußen in den seichteren Gewässern Sporttauchen. Bob war fest entschlossen, für das Marathonschwimmen in bester Form zu sein. »Vielleicht falle ich durch, Jim«, sagte er, »aber das werde ich nicht, denn ich habe mein Bestes getan.« Er war unermüdlich, und manchmal hatte ich zu tun, um bei ihm mitzuhalten. Er schaffte schließlich zweieinhalb Minuten.
Ich war von frühester Kindheit an ein Dreiminutentaucher, doch das war so ziemlich die Grenze. Um Weihnachten herum hatte mich Bob eingeholt. Vierzig und fünfzig Fuß gingen wir hinab, nur mit der Atemluft in unseren Lungen, und schließlich blieben wir dreieinhalb Minuten unten. Wir waren bei jedem Wetter draußen, auch wenn es goß und wenn der Himmel so düster war, daß wir unsere Unterwassermarkierungen nicht mehr sahen. Für Bob hatte sich das auf jeden Fall gelohnt.
Auch sonst wurde er im Wasser viel geschickter. Er verlor Gewicht, wurde drahtiger und dabei muskulöser. Vor den Weihnachtsferien musterte ihn Lieutenant Saxon gründlich. »Sie sind doch beim Tauchtest ausgefallen, nicht wahr?« fragte er.
»Jawohl, Sir.«
»Und jetzt wollen Sie sich wohl ganz umbringen? Mann, schauen Sie doch Ihre Karte an! Sie haben zwanzig Pfund verloren. Sie sind nur noch Haut und Knochen. Was tun Sie denn die ganze Zeit?«
»Nichts, Sir. Ich fühle mich absolut fit.«
»Das beurteile ich.« Aber am Ende ließ ihn Saxon brummend gehen. Bob verausgabte sich, aber es gibt keine Vorschrift, daß ein Kadett sich schonen müsse. Zu den verrücktesten Zeiten trainierte Bob. Ihm lag unendlich viel daran, im Marathonschwimmen nicht durchzufallen. Ich dachte, wenn er schnell mal eine halbe Stunde einlegte, dann übe er, vielleicht Laufen oder sonst etwas zur Verbesserung seiner Atemtechnik.
Nun, ich irrte wieder einmal.
Monate vergingen. Endlich wurde es Frühling.
David Craken hatten wir fast vergessen, diesen seltsamen, verschlossenen Jungen aus der Tiefsee. Im Mai sollte das Marathonschwimmen stattfinden.
Kurz nach dem Mittagessen gingen wir an Bord des Übungsschiffs. Seit Davids Verschwinden waren Bob und ich zum erstenmal wieder auf dem Floß, und Bob schaute mich lächelnd an. »Armer David«, sagte er, und das war alles.
Für ihn; denn ich sah etwas anderes am Geländer, etwas Reptilhaftes, mit einem riesigen, eckigen Kopf, der aus der Tiefe wuchs. In meinen Träumen hatte ich ihn oft gesehen. Aber dieses erste Mal - war es da wirklich auch ein Traum gewesen?
Jetzt war nicht die richtige Zeit, darüber nachzudenken. Als wir ein Stück auf See waren, rief uns Cadet Captain Roger Fairfane auf, uns zu Crews zu sammeln, und Trainer Blighman drillte uns noch gründlich, jeweils eine Viertelstunde, dann zehn Minuten Pause.
Schließlich wurden wir alle unter Deck befohlen. Die Luken wurden versiegelt, das Schiff tauchfertig gemacht. Die Schlepper erhielten ihre Signale, und wir gingen auf zehn Faden hinab, um unsere Fahrt unter Wasser fortzusetzen. Unser Ziel lag zehn Seemeilen entfernt, eine Meile zu sechstausend Fuß, also insgesamt sechzigtausend Fuß, fast elfeinhalb Landmeilen.