Dieser verdammte Kerl. Mit seinem verdammt arroganten Elfenblut.
Tanis sprach kein Wort, als sie Meddow verließen. Kitiara zeigte auf die Abkürzung, von der sie erfahren hatte, und als sich der Weg nach einigen Minuten gabelte, wies sie wortlos auf den linken Pfad. Es wurde langsam dunkel, daher ließen sie die Pferde schneller gehen.
Bald wurde der Pfad matschig, und die Hufe der Pferde saugten sich so fest, daß es schmatzte, wenn sie sie aus dem nassen Untergrund zogen.
»Das kann nicht der richtige Weg sein«, meinte Tanis, der vorn ritt und sich nach Kitiara umsah.
»Die Frau hat gesagt, der linke Weg würde sich ein bißchen schlängeln«, schimpfte Kitiara. »Das ist schließlich der linke Weg, verdammt. Los jetzt. Es wird dunkel.«
Tanis nickte. »Dann will ich aber nicht den rechten Weg sehen«, murmelte er.
Während sie weiterritten, veränderte sich die Vegetation. Die Bäume krümmten sich unter graugrünen Moosgirlanden, die wie die Zöpfe einer ausgedörrten Leiche aussahen. Neben dem Pfad ragte schulterhoch sonderbares Gras auf, um dessen Spitzen Wolken winziger Insekten schwirrten. Kitiara berührte eins und zog mit einem Aufschrei die Hand zurück. »Es hat mich gebissen!«
Tanis zügelte Paladin und beugte sich hinüber, um ihre Hand zu untersuchen. »Die Fliege oder die Pflanze?« fragte er. Aus zwei Schnitten unten an ihrem Daumen quoll Blut. »Sieht aus wie von Zähnen«, überlegte er.
Kitiara brauste schon wieder auf. »Mach dich nicht lächerlich. Es gibt keine beißenden Pflanzen!«
Der Halbelf machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich habe schon von viel seltsameren Dingen gehört«, sagte er.
Sie riß ihre Hand zurück. »Du willst mir bloß angst machen, Halbelf. Los, weiter.« Sie trieb Obsidian an dem Fuchs vorbei nach vorn. Tanis folgte ihr langsam.
Der Pfad wurde schmaler. An beiden Seiten wuchs das rote Gras immer dichter, bis Tanis und Kitiara rechts und links kaum noch etwas sahen. Es war so eng, daß die Pferde nur hintereinander gehen konnten. Der modrige Geruch wurde stärker, das Summen der Insekten lauter. Einmal krabbelte genau vor Obsidian etwas Purpurrotes von der Größe eines Pferdehufs über den Weg und zog einen kleinen, flatternden Vogel mit sich. Die Stute scheute dermaßen, daß Kitiara das sich aufbäumende Pferd gerade noch halten konnte. Als Obsidian sich schließlich wieder beruhigt hatte, rief Kitiara nach hinten: »Beim schwärzesten Abgrund, was war das denn?«
»Moorspinne«, sagte Tanis nervös. »Giftig.«
Als der Abend anbrach, senkten sich Schwaden von Moskitos über die Reisenden. Tanis nahm eine Decke aus seiner Schlafrolle, die er über den Kopf zog, um die hungrigen Quälgeister abzuhalten. Kitiara folgte seinem Beispiel. »Komm nicht an das Gras«, warnte er. Kitiara antwortete mit einem Grunzen, hielt Obsidian jedoch in der Mitte des Wegs.
Plötzlich stieg Tanis ab, hob einen Stein auf und warf ihn in das rötliche Gras. Es gab ein Platschen. »Der linke Weg ging nach Haven?« fragte er.
Kitiara hielt an und sah sich um. »Hat sie gesagt.« Sie ließ den Blick schweifen. »Hat sie gesagt.«
Auf beiden Seiten wurden sie vom Gras bedrängt. Als es noch dunkler wurde, hörten sie weiter links etwas Großes ins Wasser springen. Fledermäuse erhoben sich und kreisten über ihnen, um Nachtinsekten zu jagen. Ein Summen wie von abertausend Mücken erfüllte den Sumpf.
»Hast du schon einmal im Sumpf gekämpft?« fragte Tanis leise. Ohne auf die Moskitos zu achten, ließ er die Decke vom Kopf rutschen und tastete nach seinem Schwert.
Kitiara schüttelte den Kopf. »Du?«
Tanis nickte. »Einmal. Mit Flint.«
Ohne sich darüber verständigt zu haben, blieben beide äußerlich gelassen. »Was gibt es denn hier?« fragte Kitiara.
»Schon mal von den Jarak-Sinn gehört?«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Eine Rasse der Echsenmenschen. Ihr Gift ist tödlich«, sagte Tanis. Da ringsherum die Nacht anbrach, schien es passender, zu flüstern. »Und dann natürlich Oger; die gibt es überall«, fuhr er fort. »Und Watschler. Die sehen aus wie ein Haufen alter Blätter – bis sie sich aufbäumen und dich verschlingen. Sumpfkrokodile, gegen die hab’ ich mit Flint gekämpft. Am Schwanzende haben sie einen Giftstachel. Sie versuchen dich zu lähmen und ziehen dich dann ins Wasser, damit du ertrinkst.« Er erwähnte nicht, daß der reizbare Zwerg bei einer solchen Begegnung fast ums Leben gekommen wäre. Er hatte nur überlebt, weil reichlich Qualinesti-Kräuter die Wirkung des Giftes aufgehoben hatten.
Kitiara warf die Decke ab und zog ihr Schwert. Tanis hatte seins bereits in der Hand.
»Wir sind also im Sumpf. Sollen wir umkehren oder weiterreiten?« fragte die Kämpferin.
Tanis betrachtete das rote Gras. »Auf diesem engen Pfad könnten wir die Pferde noch nicht einmal wenden. Also vorwärts, aber paß auf, Kit.«
Sie ritten langsamer weiter und lauschten auf jedes neue Platschen und Gurgeln aus dem Sumpf. Der Gestank verfaulender Pflanzen und Tiere wurde schlimmer. Solinari war aufgegangen und tauchte die Reisenden in platinweißes Mondlicht.
Dann sah es auf einmal so aus, als würden zwei Silbermonde am Himmel stehen. Kitiara deutete darauf und rief: »Sieh nur, Halbelf! Ein Licht! Das ist endlich Haven!« Ohne auf den Schreckensschrei von Tanis zu achten, trat sie Obsidian in die Seiten und trabte zuversichtlich vorwärts. Der Halbelf mußte Paladin wohl oder übel zum Galopp zwingen.
»Kitiara, warte!« schrie er. »Das ist ein Irrlicht!« Die Kämpferin ritt weiter, als ob sie ihn nicht gehört hätte.
Der Pfad wurde breiter und führte rechts an einem schwarzen Teich vorbei. Über ihnen schien Solinari, der einen außerirdischen Glanz auf die Moosfäden in den Bäumen warf, die die Gefährten streiften. Tanis holte Kitiara endlich ein und griff schnell nach Obsidians Zügeln. Die Kriegerin drehte sich zu ihm um. Einen Augenblick lang war sie ganz verwirrt. Dann wurde ihr Blick wieder klar. »Ein Irrlicht?« fragte sie.
Der zweite Kreis hing tiefer, hinter dem Teich. Er hatte etwa zwei Ellen Durchmesser. Seine pulsierenden Farben veränderten sich von Weiß zu Blaßgrün, dann zu Violett und schließlich zu Blau.
»Ein Irrlicht ist schlau«, erklärte Tanis, der sein Schwert immer noch bereit hielt. »Es lockt seine Opfer, indem es sich als Laterne tarnt, und bringt die Leute durcheinander, bis sie im Treibsand landen.«
»Treibsand?« Kitiara sah sich um.
Tanis zeigte auf den schwarzen Teich vor ihnen. »Treibsand.«
Ihre Stimme klang gedämpft. Sie warf der glitzernden, wabernden Kugel einen Blick zu. »Wird es uns angreifen?«
»Vielleicht. Es darf dich auf keinen Fall berühren. Das könnte dich auf der Stelle umbringen.«
Kitiara stieg ab. In der rechten Hand hielt sie ihr Schwert, in der Linken den Dolch. »Das muß das Wesen sein, das Jarlburg und die anderen getötet hat«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist es bei Meddow an den Rand des Sumpfs gekommen und hat sie hineingelockt.« Tanis nickte zustimmend. »Wovon lebt ein Irrlicht?« erkundigte sich die Kämpferin.
»Von Angst.«
Kitiaras Blick verriet, daß sie dachte, Tanis würde sich über sie lustig machen, doch der Halbelf fuhr fort: »Ich habe gehört, daß von einer ängstlichen Person eine Aura ausgeht. Manche Wesen können das spüren. Anstatt seine Opfer gleich zu töten – zum Beispiel indem es sie streift –, bevorzugt das Irrlicht einen langsamen Tod, weil es ihre Angst als Nahrungsvorrat speichern kann.«
In diesem Augenblick wurde die pulsierende Kugel langsam, aber stetig heller, bis der Halbelf und die Kämpferin in dem Lichtschein sehen konnten, was um den schwarzen Treibsand verstreut lag. In dem unheimlichen Glühen sahen sie Schädel. Schwerter und Geldbeutel. Kitiara zeigte darauf: »Ein Schatz?«
»Das haben bestimmt die Opfer dem Irrlicht hingeworfen, um sich freizukaufen«, sagte Tanis.
Die tieferhängenden Zweige der Bäume über dem Teich hatten keine Blätter mehr. Offensichtlich hatten verzweifelte Hände sich an alles geklammert, was dem Sog des schwarzen Sandes vielleicht widerstehen konnte.