Der Zwerg drehte sich langsam um, um Kitiara vom Wagen herunter anzustarren. Seine Augen waren genauso grün wie seine Hosen und sein Hemd. »Heiße Sonnus Eisenmühle, nicht ›alter Zwerg‹, junge Dame. Bist du der Feger, der ’n Dolch braucht?«
Mit einem Blick über Kitiaras Kopf wandte sich der Zwerg an die Menschenmenge als Ganzes, »’n Schwert reicht dem Mädchen nicht; neeee, sie braucht auch noch ’nen Dolch. Wie wär’s dazu mit Streitkolben und Pike?« Er sah auf seine schäumende Kundin herab. »Mit was für Leuten gibst du dich denn ab? Oder«, er beugte sich vor und flüsterte, »wird’s hin und wieder ’n bißchen brenzlig in der Spinnstube?«
Tanis beugte sich zu Kitiara vor. »Das macht ihm einen Heidenspaß«, flüsterte er.
Kitiara blickte von Tanis zu Sonnus Eisenmühle und runzelte die Stirn. »Ich brauche einen Dolch«, sagte sie schließlich. »Meinen alten habe ich im Treibsand verloren.«
Der Zwerg riß die Augen auf. »Huch? Treibsand?« Dann faßte er sich wieder und kehrte zu seiner griesgrämigen Art zurück. »Bestimmt willst du auch einen Haufen Edelsteine und Perlmutt und all so’n Zeug. Völlig überflüssig. Der Zierat kann eine Waffe völlig aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Hör mal«, fauchte sie, »hast du jetzt einen Dolch für mich oder nicht?«
»Klar hab’ ich ’n Dolch!« sagte der Zwerg, der zu einer Truhe stapfte, sie öffnete und dem Halbelfen ein gefaltetes Lederpaket zuwarf. »Hab’ auch Scheiden, aber ich seh’ schon, daß unter deinem kurzen Röckchen da eine rausguckt.«
Tanis fing das Lederbündel auf. Es war ein kompletter Anzug in der Machart der Steppenvölker – feinstes, weiches Hirschleder, braun wie polierte Eiche, mit Fransen am Rückenteil. Die Säume waren mit Holzperlen bestickt. »Kann ich ihn in deiner Bude anprobieren?« fragte der Halbelf, der auf die schildkrötenartige Kabine auf dem vorderen Teil des Wagens deutete.
»Klar. Wolltest du deine Sachen etwa hier vor allen… He! Hast du ›Bude‹ gesagt?« erzürnte sich der Zwerg. Als Tanis auf den Wagen sprang, schenkte ihm Sonnus Eisenmühle seinen grimmigsten Blick. Der Halbelf zuckte nur mit den Schultern und ging zu dem Unterstand. Der Zwerg schnappte sich eine Schale mit Dolchen, nahm ein paar Seidenschals herunter, die darauf gefallen waren, und wandte sich wieder Kitiara zu. »›Bude‹, hat er gesagt«, knurrte Eisenmühle vor sich hin. »Damit werden die Ledersachen doppelt so teuer.«
Während Tanis sich in dem dunklen, vollgestopften Raum umzog, hörte er eine neue, flötende Stimme, die sich mit Sonnus Eisenmühles Gegrummel vermischte.
»Hübsche Dolche, Sonnus! Ich hab’ mal ein mit Edelsteinen besetztes Schwert gefunden, ein Glück, denn gerade als ich überlegte, wem ich es wohl zurückbringen sollte, tauchte der Besitzer auf, und der hat sich mächtig aufgeregt, daß er es verloren hatte. Ich wußte, daß er froh war, daß ich es gefunden hatte, auch wenn er zu aufgeregt war, um sich zu freuen, ehrlich. Ich glaube, er hatte sich schon die Haare gerauft. Ich – «
»Raus hier, du verflixter Kender!« brüllte der Zwerg. »Und wenn du auch nur noch eine Sache aus diesem Wagen klaust, dann… dann verkauf ich dich den Minotauren als Ziegenfutter!«
»Klauen?« Die zarte Stimme triefte von verletztem Stolz. »Ich klaue nicht, Sonnus. Ich kann doch nichts dafür, daß alle Welt Sachen verliert, und daß ausgerechnet ich der glückliche Fin-«
»Das reicht!« donnerte der Zwerg. »Raus!«
Tanis hörte einen dumpfen Aufprall, der von einem Kender stammen konnte, der gegen eine Wagenwand prallte. Als der Halbelf Sonnus Eisenmühles Hemd über den Kopf zog, hörte er als nächstes Kitiaras ungerührte Stimme: »Was willst du für diesen Dolch, Zwerg?«
Der Zwerg sagte seinen Preis. Kitiara handelte ihn herunter, und sie einigten sich gerade, als Tanis aus Eisenmühles Unterstand auftauchte. »Ich nehme die Sachen«, sagte er zu dem Zwerg, während er sich noch über den guten Sitz freute, »wenn der Preis stimmt.«
»Hm…« Der Zwerg strich seinen dicken Bart. »Mir scheint, so einen Anzug gibt es kein zweites Mal westlich der Que-Shu, wo ich ihn herhab, und wenig hat er mich auch nicht gekostet… Daß er so selten ist, erhöht doch wohl den Preis.«
»Bis darauf, daß westlich der Que-Shu höchstens der Halbelf ihn nehmen würde«, kommentierte Kitiara, die in dem Lederbeutel herumfingerte, in den sie das Geld aus dem Schatz des Irrlichts gesteckt hatten. »Sei froh, daß du ihn loswirst, Zwerg. Vielleicht sollten wir uns woanders umsehen, Tanis.« Tanis nickte.
Sonnus Eisenmühle runzelte finster die Stirn. »Fünf Stahlmünzen«, meinte er.
»Drei«, sagten Kitiara und Tanis gleichzeitig.
»Vier.«
»Abgemacht!«
Kitiara bezahlte Sonnus Eisenmühle und steckte ihren neuen Dolch, dessen Griff mit Tigeraugen besetzt war, in ihre Scheide. Als sie und Tanis sich wieder unter die Menschen mischten, hörten sie, wie der Zwergenhändler einen Kunden mit den Worten empfing: »Und was wollt Ihr hier?«
Kitiara streifte eine Kenderin. Die Frau ging ihr bis zum Bauch und hatte das für ihre Rasse typische lange, braune Haar zu einem Knoten hochgebunden. »Das ist die, die vorhin versucht hat, den Zwerg auszurauben«, meinte die Kämpferin zu Tanis.
»Ausrauben?« empörte sich die Kenderin. »Ich stehle nicht. Ich habe ein schier unglaubliches Glück, Sachen zu finden. Meint ihr nicht, daß manchen Leuten das Glück einfach angeboren ist? Ich finde, schon. Meinen Schwestern geht es genauso wie mir. Aber ich…« Mit unschuldigen, braunen Rehaugen redete sie weiter, obwohl sich drei Halbwüchsige zwischen Kitiara und die Kenderin gedrängt hatten. Die kindhafte Frau geriet aus dem Blickfeld, und ihre lispelnde Stimme ging in dem Stimmengewirr auf dem Marktplatz verloren.
Tanis und Kitiara schlüpften zwischen den Käufern hindurch. Der Lärm war regelrecht ohrenbetäubend. Ein Teppichhändler stritt sich mit einem Mann, der Lederschuhe verkaufte; jeder beschuldigte den anderen, daß er seine Waren auf dem Platz des anderen ausbreiten würde. Dutzende von Verkäufern versuchten einander zu übertönen, um die Menge lautstark von den Vorzügen ihrer Waren zu überzeugen.
Ein Illusionist unterhielt die Menge. Ein Jongleur balancierte eine Flasche auf dem Kopf und schleuderte gleichzeitig flammende Keulen heraus. Eine verschleierte Seherin bot jedem, der genug Geld hatte – und leichtgläubig genug war –, einen Blick in die Zukunft an. Ein Gnom verkaufte Zimbeln und äolische Harfen, flache Kästen mit Saiten, die nicht mit den Fingern, sondern vom Wind gespielt wurden. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, saßen auf einem grasbewachsenen Hügel, wo sie ihre dreisaitigen, dreieckigen Lauten stimmten.
Es wurden Schals, Parfüm und schöne Kleider angeboten, die Kitiara alle übersah. Doch bei Schwertern, Rüstungen und Sattelzeug blieb sie bewundernd stehen.
»Ich würde meinen Brüdern gern etwas mitbringen«, sagte Kitiara. »Eine Waffe für Caramon – er ist ein Krieger wie ich. Und ein paar Seidenschals für Raistlin, denke ich. Die kann er für bestimmte Zaubersprüche gut gebrauchen.«
»Vielleicht finde ich etwas für Flint«, schloß sich Tanis an. »Am liebsten hätte er natürlich Bier, aber ich weiß nicht recht, ob ich wirklich ein Fäßchen Havenbier von hier nach Solace schleppen will.«
»Ist nicht bald Zeit zum Mittagessen?« fragte Kitiara, deren Aufmerksamkeit sich auf einen Mann richtete, der laut rufend einen Kessel Suppe umrührte, die nach Salbei, Basilikum und Lorbeerblättern duftete.
Tanis folgte ihr gehorsam zu einer freien Bank neben dem Suppenverkäufer. »Du hältst den Platz frei«, sagte er zu ihr. »Ich bezahle; ich habe noch ein bißchen Geld.«
»Wir sollten die Beute von dem Irrlicht aufteilen«, murmelte Kitiara.
Tanis nickte. »Nach dem Essen.«
Kurze Zeit später kehrte er mit einem Holztablett zurück, auf dem zwei dampfende Suppenschalen und dicke Scheiben Weißbrot lagen, die mit geröstetem Sesam bestreut waren. Eine Weile aßen sie schweigend und genossen das leckere Brot und die scharfe Suppe. Tanis wischte sorgfältig die Sesamkörnchen von der Stickerei auf seinem neuen Hemd ab, woraufhin Kitiara mit der Hand an die Hüfte fuhr, wo ihre Scheide… leer war.