»Tanis! Mein Dolch ist weg! Die Kenderin!«
Der Halbelf sprang auf. Kitiara ebenfalls. Dann liefen sie in gegensätzliche Richtungen auseinander.
Tanis drängelte sich, so schnell er konnte, durch die überfüllten Gassen, blickte nach rechts und links, entdeckte jedoch keine Spur von der braunäugigen Kenderin. Er kehrte zu Sonnus Eisenmühles Wagen zurück. Der Zwerg hockte hinten auf dem Fuhrwerk und ließ die kurzen Beine herunterbaumeln. Er hielt einen Krug und futterte ein belegtes Brötchen, wobei er geflissentlich mehrere mögliche Kunden übersah. Tanis roch Fisch, Knoblauch und Bier, als er näher kam. Er fragte nach der Kenderin. Dreimal mußte er die Frage stellen, jedesmal lauter, bis der Zwerg sich dazu bequemte, ihn anzusehen und zu antworten.
»Beim letzten Mal, wo ich diese diebische Elster gesehen habe, ging sie in diese Richtung«, zeigte Eisenmühle. »Paß auf deinen Geldbeutel auf, Halbelf. Tröpfelchen Torhopser ist eine ganz Schnelle.« Nach einer kurzen Pause fügte er grantig hinzu: »Aber Tröpfelchen ist nicht schlimmer als der Rest von dem ganzen Lumpengesindel, mit dem ich mich abgeben muß. Kender sind wenigstens nicht absichtlich Lumpen.«
Eisenmühle sah woanders hin. Ganz offensichtlich war die Unterhaltung für ihn beendet. Einen Augenblick später betrachtete er wirklich verwundert, wie sich Tanis neben ihm auf den Wagen schwang und auf die Zehenspitzen stellte, um in der Menschenmenge nach der Kenderin Ausschau zu halten.
Vom Wagen aus konnte man auch nicht viel mehr sehen als von unten. Zelte und Fahnen verdeckten weitgehend die Sicht auf das, was sich auf den Wegen dazwischen abspielte. Tanis’ schnelle Augen entdeckten immerhin Kitiara, die sich durch die Leute drängte und wütend jeden beiseite schob, der ihr in die Quere kam. Tanis hoffte um Tröpfelchens willen, daß er sie vor Kitiara fand.
Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Am Ende von Eisenmühles Gasse schrie jemand auf, und die Menschen drehten sich neugierig um. Tanis reagierte sofort. Er sprang vom Wagen und kämpfte sich zum Mittelpunkt der Aufregung vor.
Kitiara hatte ihren Dolch zurück, dessen glitzernde Klinge jetzt an Tröpfelchens Hals saß. Kitiara hatte der Kleinen den linken Arm um die Brust geschlungen; ihre Rechte hielt den Dolch. »Ich sollte deinem erbärmlichen Leben hier und jetzt ein Ende setzen, und keiner könnte mich daran hindern, Kender!« rief Kitiara. Ein paar Händler klatschten Beifall.
»Ich hab’ dich gerade gesucht!« quiekte Tröpfelchen. »Ich habe deinen Dolch gefunden…«
»… in der Scheide an meinem Bein, du Diebin!«
Tröpfelchen Torhopser keuchte zwar, doch sie dachte kurz über Kitiaras Worte nach. Dann fuhr sie achselzuckend fort: »Tja, den Platz fand ich halt ziemlich gefährlich zum Tragen. Es könnte doch schließlich ein Taschendieb – « Ihr Satz endete mit einem Gurgeln, als Kitiara mit ihrem linken Arm fester zudrückte.
»Hör mir zu, Kender.«
Tröpfelchen nickte schwach. Ihr Gesicht lief bereits rot an.
»Komm nie wieder in meine Nähe.« Kitiaras Stimme flüsterte beinahe. Die gebannten Passanten mußten näher herankommen, um ihre Worte zu verstehen. »Nie. Verstanden?« Die Kenderaugen wurden glasig, während die Kleine sich loszureißen versuchte.
Tanis wollte einschreiten. »Kit?«
Kitiara sah auf und zwinkerte dem Halbelfen zu. Dann redete sie weiter zu Tröpfelchen. »Ehrlich gesagt, solltest du Haven verlassen – und zwar jetzt. Verstanden?«
»Kit!« unterbrach Tanis. »Sie kann kaum atmen!«
Kitiara lockerte ihren Griff etwas und zog den Dolch ein Stückchen zurück. »Verstanden?« wiederholte sie.
Tröpfelchen Torhopser nickte. »Morgen früh«, krächzte sie. »Gleich nach dem Früh-«
»Heute! Heute nachmittag.«
»Aber…«
Kitiara bewegte ihren Dolch. Die Kenderin nickte. »Na gut. Ich wollte sowieso weiter, weil…«
Die Kriegerin ließ los, und Tröpfelchen Torhopser verschwand mit wippendem Haarknoten in der Menge. Der Menschenauflauf löste sich auf, als die Leute feststellten, daß der Zwischenfall vorbei war.
»Findest du nicht, daß du ein bißchen grob warst?« fragte Tanis.
»Die überlegt es sich zweimal, bevor sie wieder klaut.«
»Macht sie nicht«, stellte der Halbelf fest. »Kender stehlen nicht, jedenfalls sehen sie das nicht so. Sie haben keine Angst und kein richtiges Verständnis für Privatbesitz – nur die Neugier von Fünfjährigen.«
Die Kriegerin antwortete nicht. Sie polierte ihren neuen Dolch mit dem Hemdsaum.»Wie hast du den Kerl kennengelernt, Flint Feuerschmied, meine ich?« fragte Kitiara am selben Abend.
Sie hatten in den »Sieben Zentauren« zu Abend gegessen und saßen jetzt auf einer der Bänke, die in Reihen im Hof des »Maskierten Drachen« standen, eines der größten Wirtshäuser in Haven. Vor ihnen bauten fahrende Sänger eine kleine Bühne auf. Ohne auf die Wolken zu achten, die sich über ihnen zusammenzogen, zündeten die Knechte des Wirts Fackeln an, die in regelmäßigen Abständen an der Wand hingen. Langsam trafen die ersten Gäste ein.
»Flint ist nach Qualinesti gekommen, als ich noch ein Kind war«, sagte Tanis. »Wir wurden Freunde, und als er ging, ging auch ich. Wir leben schon jahrelang in Solace.«
Das war natürlich nicht die ganze Geschichte. Der Zwerg, ein Außenseiter im Elfenreich, hatte sich mit dem einsamen Halbelfen angefreundet, hatte ihm über eine Schmach nach der anderen hinweggeholfen und war für Tanis oft wirklich der einzige Freund in Qualinost gewesen. Als Flint dann später beschloß, die Stadt der Qualinesti lieber zu verlassen, begleitete der nahezu erwachsene Tanis ihn ohne großes Bedauern. Im Gegensatz zu dem Zwerg hatte der Halbelf die Elfenstadt jedoch seitdem immer wieder mal besucht.
Kitiara schien das allerdings gar nicht so genau wissen zu wollen. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf zwei Sänger. Die Frau, ein zartes Wesen mit schulterlangen, blonden Haaren und großen blauen Augen, stellte sich vorn in die Mitte der Bühne, während ihr Begleiter, ein ebenso schlanker Mann mit dunklen Haaren und offenem Lächeln, Fackeln in die freistehenden Halter an der rechten und linken Ecke der Plattform steckte.
Der Mann trat zurück und warf einen kritischen Blick auf die Frau. »Das Licht ist zu schwach«, sagte er zu ihr. Er stellte die Fackeln näher heran, trat wieder zurück und kam dann zur Bühne.
»Besser?« fragte sie.
Er nickte und erwiderte: »Perfekt. Die Beleuchtung und auch die Sängerin.« Dann sprang er auf die Plattform, um sie zu küssen. Die drei Kinder der beiden, zwei Mädchen und ein kleiner Junge, saßen im Schneidersitz hinten auf der Bühne. Sie stöhnten, als sich ihre Eltern umarmten. Das Paar trennte sich und grinste die Kinder unbekümmert an.
Kitiara verdrehte die Augen. »Wie süß«, war ihr schnippischer Kommentar.
Tanis stellte fest, daß es dasselbe Paar war, das am Morgen schon auf dem Markt von Haven geprobt hatte. Mit den Kindern im Schlepptau verschwanden sie hinter der Bühne. Anschließend brachten die fünf alle möglichen Instrumente herbei, die sie vorsichtig auf die Bühne legten. Tanis erkannte eines als Zimbal, ein Saiteninstrument, das man sich in den Schoß legt und das bei den Damen am Hof von Qualinesti beliebt war. Der Mann kam mit zwei dreieckigen Lauten in der Hand zurück. Es gab auch ein Klavichord, ein länglicher Kasten mit Tasten, den der Mann vor einer Bank auf einen Ständer legte. Die Frau stellte eine hohe Trommel hinten auf die Bühne. Dann half ihr Mann ihr dabei, eine Schlitztrommel, einen durch einen schmalen Schlitz ausgehöhlten, polierten Baumstumpf, daneben zu rollen. Die ältere Tochter der beiden hängte einen Gong an einen Ständer neben den Trommeln. Die jüngere Tochter ließ sich hinplumpsen und übte Triller auf einer Querflöte, während ihr Bruder Blockflöte spielte. Tanis sah gebannt zu.