Tanis hatte keine Lust, die ganze Nacht wachzubleiben, um die alten Geschichten von Kitiara und Caven mitanzuhören. Ihr Zimmer in den »Sieben Zentauren«, das sie glücklicherweise im voraus bezahlt hatten, war jetzt einladender als eine rauchige Taverne mitten in Haven. Kitiara fand den Weg zurück auch allein.
Er verließ den »Gliklichen Oga«, ohne sich zu verabschieden.
Drei Stunden später stieß sich Kitiara vom Tisch ab und stand unsicher auf, um gleich nach ihrem Packsack zu greifen, der selbst nach ihrem neunten Bier noch sicher zu ihren Füßen lag. Caven hob benommen den Kopf, der auf dem klebrigen Tisch gelegen hatte. »Was’n los?« murmelte er. »Willste noch was?« Er griff nach dem Krug, der leer neben ihm lag, und verzog das Gesicht. Dann zwinkerte er ein paarmal und tastete auf dem Tisch herum. Kitiara erriet seine Absicht.
»Ist kein Geld mehr da«, sagte sie leise. Als seine Hand weiter über den schmutzigen Tisch wanderte, fügte sie hinzu: »Wir haben unsern Teil gehabt, und der Wirt hat uns im Auge. Ich konnte dich schon immer unter den Tisch trinken, Mackid.«
Caven grunzte. »Sag ihm, er soll’s auf die Rechnung setzen. Ich steh’ dafür ein.«
Kitiara lachte überlaut und sah mit schiefem Grinsen, wie Caven zusammenzuckte. »Sag du’s ihm, Mackid. Ich verschwinde jetzt.« Sie stieg über einen schnarchenden Zwerg und hielt auf die Tür zu, wobei sie den Hinterlassenschaften anderer Säufer auf dem Boden auswich.
»Wo wohnst du?« rief Caven ihr hitzig nach. »Du kommst mir nicht davon, ohne mich zu bezahlen, du Betrügerin!«
Zu so später Stunde an so einem Ort waren solche Beschimpfungen übliche Zeichen der Zuneigung. Die wenigen Gäste, die noch aufnahmefähig waren, achteten kaum auf das, was zweifellos ein normaler Streit zwischen Liebenden war.
»Im ›Maskierten Drachen‹«, log sie. »Wir sehen uns morgen früh.«
»Ich komme mit. Das ist viel besser, als bei Malefiz im Stall zu schlafen.« Während Kitiara sich fragte, ob diese Bemerkung ernstzunehmen war, stützte Caven sich hoch und richtete sich auf. Als er wieder klar sehen konnte, ließ er den Blick langsam durch den Raum schweifen. »Wo ist Wod?« schimpfte er. »Dieser faule – «
»Wod ist vor einer Stunde mit der Kellnerin verschwunden. Das heißt, die blonde Kuh ist gegangen, und der Junge ist ihr hinterher.«
»Ganz heiß auf sie«, sagte Caven zufrieden. »Guter Junge. Da fällt mir ein…« Er stieg vorsichtig über den Zwerg und wäre beinahe der Länge nach hingeschlagen, als der Betrunkene hickste und sich umdrehte. Der Raum stank nach abgestandenem Essen, Bier und verbrauchter Luft. »Ich komme mit«, wiederholte er. »In den ›Maskierten Drachen‹.«
»Tanis ist schon da. Ich glaube kaum, daß Platz für drei ist.«
»Dann sag ihm, er soll verschwinden«, sagte Mackid störrisch. »Ich kann jederzeit jeden Elfen plattmachen.«
»Halbelfen«, stellte Kitiara richtig. »Und mach dir da nichts vor.«
Caven holte weit aus, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. »Sag ihm, er soll Leine ziehen, und dann komm mit mir.« Er zwinkerte. »Ich erlass’ dir auch großzügig deine Schulden.« Er stützte sich am Türknauf ab, um das Gleichgewicht zu halten.
Kitiara sah zweifelnd auf. Ihre Augen waren klarer als die der meisten anderen im Raum. Caven Mackid war ein körperlich höchst eindrucksvoller Mann, aber in seinem augenblicklichen Zustand nicht gerade unwiderstehlich. Und den Halbelfen war sie noch nicht leid.
»Ich gehe, Mackid.« Sie drehte sich um und stieg die drei Stufen zur Straße hoch.
Es regnete. Das Kopfsteinpflaster, das schon bei trockenem Wetter rutschig war, war jetzt wie mit Öl übergossen. Kitiara legte eine Hand an die Wand des »Gliklichen Oga« und ging schnell die Straße hinunter. Sie achtete auf ihre Schritte und versuchte den Regen zu ignorieren. Hinter sich hörte sie Cavens gedämpften Fluch, als dieser auf die verregnete Straße trat. »Kitiara!« bellte er. Doch sie lief unbeirrt weiter.
Um diese späte Stunde war in Haven außer ein paar Betrunkenen und einer gelegentlichen, gelangweilten Stadtwache niemand mehr auf der Straße. Kitiara bog scharf nach links ab und fand sich in einer leb- und lichtlosen Seitengasse wieder, die ungefähr zu den »Sieben Zentauren« führte und nicht aus schlüpfrigem Pflaster, sondern aus festgetretener Erde war.
Ein Stück hinter ihr tauchte Caven auf. »Kitiara?« Er spähte in die Dunkelheit.
»Laß es, Mackid«, fauchte sie und lief schneller. In diesem Augenblick gab es jedoch einen Donnerschlag, und aus dem Nieseln wurde ein Platzregen. Sie rettete sich mit einem Fluch in einen Eingang. Gleich darauf gesellte sich Caven zu ihr.
Der Eingang war breit, geschützt und trocken. Verschlossene Doppeltüren führten in eine Art Lager. Caven stand irgendwie erwartungsvoll reglos zwischen Kitiara und der Straße. Zitternd wurde ihr klar, daß der kurze Rock und die leichte Bluse ihr auf dem Markt von Haven zwar Bewegungsfreiheit und bewundernde Blicke verschafft hatten, für einen kalten Regenguß jedoch völlig unpassend waren.
Sie war naß bis auf die Haut. Caven hingegen war durch seinen dicht gewebten Wollmantel geschützt.
Sie zeigte darauf. »Trägst du den Mantel auch, wenn es warm ist, Mackid?«
Caven lächelte. »Ist mitunter praktisch.«
Plötzlich erschien ihr Caven Mackid gar nicht mehr so betrunken. Er wirkte vor allem warm, und Kitiara merkte, daß sie nicht nur seinen Körper bewunderte, sondern auch nach seiner Wärme verlangte. Sie zitterte wieder. »Leih mir deinen Mantel, Soldat«, befahl sie.
»Kalt?« Er grinste wieder. Caven ragte vor ihr auf, ohne sie richtig zu berühren. Sie spürte seine Erregung. »Ich kann dich nicht nur mit meinem Mantel wärmen, Kit«, flüsterte er. Mit stechendem Blick sah er sie an.
Kitiara lehnte sich an die rauhe Wand des Eingangs. Von den Steinen ging Kälte aus. Draußen auf der Straße regnete es in Strömen.
Bebend holte sie Luft. Dann nickte sie. Caven griff nach ihr.
6
Zauberer und Freund
Zornige, blaue Augen spähten aus einem Eingang gegenüber auf Kitiara und Caven. Eine im schwachen Licht aschgraue, weite Wollrobe mit Kapuze verbarg den Rest der Frau. Kai-lid Entenaka hatte Kitiara Uth Matar unbemerkt verfolgt, seit die Kriegerin am frühen Abend mit den drei Männern die Bardenvorstellung verlassen hatte. Aber Kälte und Nässe machten Kai-lid nichts aus, denn ihre magische Robe hielt beides von ihr ab. Ihre Finger spielten mit der Seidenschnur um ihren Bauch. Natürlich hätte sie einen Lichtzauber sprechen können, um zu sehen, was das Paar da drüben im Eingang tat, doch solche Beleuchtung brauchte Kai-lid nicht. Erinnerungen an ähnliche Momente in ihrer Ehe überfielen sie. Seit dem Ende der Ehe versuchte sie solche Erinnerungen zu verdrängen, aber sie kamen ungebeten zurück, meist bei Nacht.
Sie schüttelte leicht den Kopf, um die ungerufenen Gedanken zu vertreiben. »Und der Halbelf, Hauptmann Uth Matar?« flüsterte sie in sich hinein.
Kai-lid wartete geduldig, bis der Regen nachließ und die beiden Gestalten herauskamen, wobei sie ihre Kleider zurechtzogen und das regennasse Haar mit den Fingern durchkämmten. Geschützt vom Umhang des Mannes gingen sie eng aneinandergedrängt gemeinsam in die Nacht. Die Zauberin wartete, bis sie fort waren, und überquerte dann die Straße. Ihre Finger durchsuchten die Steine und den Schmutz auf dem Boden vor dem Haus. Die Bodenziegel waren noch warm, doch sie fand keine weitere Spur von dem Paar. Gerade als sie aufgeben wollte, kullerte etwas Kleines, Hartes unter ihrer Hand hervor. Jetzt sprach sie doch einen Lichtzauber, woraufhin ein blaßgrüner Schein den Eingang beleuchtete und ihre zarten, eichenbraunen Züge zu sehen waren. Wieder suchte sie, bis sie einen dunklen Knopf fand. Wahrscheinlich war er aus Schildpatt; der Polierer hatte es nicht geschafft, die Unebenheiten des Panzers zu glätten.
Der Knopf war klein, aber wenn er Kitiara Uth Matar oder dem Mann gehörte, würde das der Zauberin reichen. Sie hielt ihn fest, während sie durch die dunklen Straßen huschte, sich in die Schatten drückte und niemandem begegnete.