»Dreena ten Valdan«, flüsterte Kitiara.
Obwohl die unteren zehn Fuß des Schlosses von Nebel verborgen waren, gab die schlanke Frauengestalt auf den Zinnen ein hervorragendes Ziel ab. Es waren mehrere hundert Schritt zum Lager ihres Vaters, und Dreena ten Valdan stand etwa sechzig Fuß über den Soldaten. Doch das lag in Reichweite der Bogenschützen, die der Valdan angeheuert hatte.
»Genau wo ihr Mann vor einer Woche vom Pfeil getroffen wurde«, sagte sich Kitiara leise. »Vielleicht hofft sie, jetzt zu ihm zu kommen.« Sie schnaubte.
Unter Kitiaras Augen winkte Dreena ten Valdan kühn dem größten Zelt in Kitiaras Lager zu, dem mit der purpurschwarzen Standarte des Valdans von Kern. Dann trat die junge Frau zurück und war verschwunden.
»Was für eine Närrin«, sagte ein schwarzhaariger Mann mit schwarzem Bart, der aus dem Nebel neben Kitiara trat. »Warum, trotzt sie ihrem Vater auf diese Weise? Ihre Truppen verlieren die Schlacht auf jeden Fall. Wenn erst mal alles vorbei ist, wird Dreena ten Valdan noch all ihre Freundlichkeit brauchen können, nur um ihren Kopf zu retten. Der Valdan sieht in ihr einen Feind, genau wie in ihrem toten Mann.«
Kitiara spähte in den Nebel. »Es ist kein Verrat, Mackid, wenn man sein eigenes Land verteidigt.«
»Sie verrät ihren Vater.«
»Aber nicht ihren Mann.«
Caven Mackid schlug einen belustigten Ton an. »Wird Hauptmann Uth Matar plötzlich weich? Bei den Göttern, Kitiara, du verteidigst die große Liebe?«
»Wohl kaum. Aber ich kann doch ihren Mut anerkennen, daß sie für jemanden eintritt, den sie liebt.«
Caven grunzte.
Der Himmel wurde noch heller, doch der Dunst zog sich zu und breitete sich aus, bis er wie ein Federbett dicht über dem Boden hing. Das farblose Licht brachte eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Mann und der Frau an den Tag – schwarze Haare, dunkle Augen, blasse Haut. Aber wenn man sie genauer ansah, war die Ähnlichkeit sehr oberflächlich. Während Kitiaras Behendigkeit ihren Körper biegsam und drahtig machte, war Caven muskelbepackt. Kitiaras langer Seitenblick verriet ihr Wohlgefallen.
»Bei diesem Nebel werden die Männer es auf dem unebenen Boden nicht leicht haben«, überlegte Caven. »Vielleicht entschließen sich die Generäle zu warten.«
»Sind die Pferde so weit?« unterbrach ihn Kitiara.
Ihr Ton machte Caven klar, daß mit dem Geplänkel Schluß war. Es wurde Zeit für die Schlacht.
»Malefiz und Obsidian sind gesattelt und beladen«, sagte er. »Wod kümmert sich um sie.«
»Wenigstens dazu taugt dein Knappe.«
»Trotzdem bleibt er mein Neffe.«
Kitiara warf ihm einen Blick aus ihren braunen Augen zu. »Wer wird hier weich?« Die Antwort wartete sie nicht ab. »Sag Wod, daß er Obsidian eine Extraportion Hafer geben und dann mit ihr an der Spitze der Westkolonne warten soll.« Sie zögerte, bevor sie fortfuhr. »Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Schlacht, Caven«, gestand sie. »Ich bin nicht überzeugt, daß uns die Generäle des Valdan zum Sieg führen können. Für meine Begriffe haben sie schon die Belagerung vermurkst.«
Caven Mackid wartete, bis er sicher war, daß Kitiara ausgeredet hatte. »Du glaubst, wir verlieren?«
Kitiara blieb die Antwort schuldig. Statt dessen tätschelte sie ihren Schwertgriff. »Geh zu Wod und sag’s ihm«, meinte sie. »Und viel Glück, mein Freund. Ich fürchte, wir werden es heute brauchen.«
Nur Sekunden später war Caven zwischen Nebel und Bäumen verschwunden. Es wurde heller. »Bei den Göttern, warum blasen sie nicht zum Angriff?« flüsterte Kitiara gereizt. »Der beste Zeitpunkt ist schon vorbei. Worauf warten sie?«
Stimmen ließen sie stehenbleiben. Sie blickte wieder den Hang hinunter in den Nebel. Stimmen? Sie runzelte die Stirn. Wieder glitt ihre Hand zum Schwert. Unten um das Granitschloß des Meirs hatte sich der Nebel zusammengezogen und kroch mehr als mannshoch die Mauern empor. Es schien, als würde das Schloß schweben – Kitiara mußte zugeben, daß das taktisch sehr vorteilhaft sein würde. War der Nebel ein Werk von Zauberei? Hatte die Witwe des Meir ein paar Tricks auf Lager? Dreena war als Zauberin bekannt, doch ihre Macht war bescheiden. Janusz, der Zauberer des Valdan, hatte sie von Kindheit an unterrichtet.
Dreena muß doch wissen, daß sie dem Zauberer nicht gewachsen ist, dachte Kitiara bei sich. Er kennt alles, was sie versuchen könnte.
Wieder Stimmen. Und wieder kamen sie unten von der Schloßmauer. Flüstern. Wollten die Schloßbewohner etwa selbst angreifen? Kitiara sah wieder hoch zu ihrem eigenen Lager. Sie hatte keine Zeit, Caven oder andere Verstärkung zu holen, und wollte auch nicht unnötig Alarm schlagen. Vielleicht hörte sie nur das Geflüster ihrer eigenen Soldaten, das gespenstisch von den Steinmauern zurückgeworfen wurde.
»Dieser verfluchte Nebel«, flüsterte Kitiara. Nachdem sie ihr Schwert gezogen hatte, nutzte sie Nebel und Gebüsch als Deckung und schlich auf die Stimmen zu. Sie konnte kaum etwas sehen, gerade mal ihre eigenen Füße, aber dennoch schob sie sich vorwärts.
Die Stimmen schienen jetzt von links zu kommen. Plötzlich türmte sich vor Kitiara der graue Granit des Schlosses wie der gewaltige Grabstein eines Gottes der Vorzeit auf. Kitiara entfuhr ein Laut der Überraschung. Sie sah die Silhouette eines Busches, der genau am Fuß des Schlosses wuchs, und duckte sich dahinter.
»Wer ist da?« Das war eine Frauenstimme. Eine herrische Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu geben. Kitiara zog sich weiter hinter den Busch zurück und spähte durch die Blätter. Nur zwanzig Fuß weiter tauchte aus dem Nebel eine Frau auf, die jedoch ihr Gesicht abwandte. »Wer ist da?« fragte die Frau wieder in den Nebel. Sie wartete und wandte sich dann zum Schloß zu. »Lida?« Die Stimme bebte plötzlich vor Angst.
Kitiara hielt wieder die Luft an, diesmal jedoch geräuschlos, als die Frau sich umdrehte und die Söldnerin ihre Wange, dann das Profil ihrer Nase, dann diese unverwechselbaren türkisblauen Augen sah. Dreena ten Valdan vor dem Schloß? Kitiaras Gedanken überschlugen sich, als sie zu entscheiden versuchte, was sie tun solle.
Dreena hatte offensichtlich im Nebel die Orientierung verloren. Warum versuchte sie nicht, ihn magisch zu zerstreuen? Kit kam sofort auf die Antwort: Wenn Dreena das tat, würde Janusz wissen, wo sie ist.
Dreena trug nicht mehr das Rot und Blau, mit dem sie sich auf den Zinnen gezeigt hatte. Statt dessen hatte sie einen unförmigen, erdfarbenen Umhang übergeworfen. Ein Nebelfinger schlang sich um die Frau. Als der Nebel sich auflöste, war Dreena verschwunden.
Kitiara holte erschrocken Luft und erhob sich. Sie zwang sich, still zu bleiben und zu lauschen, und hörte, wie beschuhte Füße einen feuchten Pfad entlangeilten. Dann – nichts mehr. Kitiara stand kerzengerade mit gezogenem Schwert. Sie schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, länger hier zu bleiben. Dreena war fort, und Kitiara hatte die Gelegenheit verpaßt, sie zu erwischen. Im Schutz dieses Nebels konnte die Frau überall sein.
Mit einem Fluch steckte Kitiara ihr Schwert wieder ein und rannte durch den Nebel zum Söldnerlager. Mit jedem Schritt, den sie sich vom Schloß entfernte, wurde der Nebel eine Handbreit flacher, bis er wieder nur ihre Knie umspielte. Als ihre schlanke Gestalt zwischen den Bäumen hindurch, an den Zelten vorbei und den Abhang zu den Zelten des Zauberers und des Valdan hinauf hetzte, blieb den Soldaten der Mund offen stehen. Kitiara hörte, wie Lloiden schon wieder über die Dummheit dieses Feldzugs herzog.
Keines der Zelte war bewacht. Nachdem sie kurz tief Luft geholt und ihre selbstsichere Haltung eingenommen hatte, betrat Kitiara das große Zelt – das mit dem purpur-schwarzen Wimpel darüber.
Im Zelt war es so warm wie draußen kalt und naß, und die Männer im Zelt funkelten den Eindringling finster an. Der Valdan, ein rothaariger Mann mittleren Alters, zischte dem Magier etwas zu. Janusz wirkte Jahrzehnte älter als der Valdan, war jedoch Gerüchten zufolge in Wirklichkeit ungefähr ein Jahr jünger. Kitiara ignorierte die beiden Generäle absichtlich, und diese ignorierten sie, denn sie zogen gerade wegen der Tirade des Valdan die Köpfe ein.