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In der Schwärze der Nacht hätte eine gewöhnliche Frau langsamer gehen müssen, doch Kai-lids Magie half ihr, den Weg zu beleuchten, als sie die Stadt hinter sich ließ und sich in nordöstllicher Richtung von Haven entfernte. Sie achtete nicht auf das Unterholz um sie herum. Obwohl Kai-lid keine mächtige Zauberin war, hatte sie Tricks parat, um sich notfalls in Sicherheit zu bringen. Der Regen machte ihr nichts aus, denn die Blätter hoch über ihrem Kopf bildeten ein dichtes Dach.

Der Pfad wurde steiniger und schmaler, denn je weiter sie lief, desto weniger war er ausgetreten. Er führte in den Düsterwald, wohin sich selten jemand wagte.

Die Nähe des Düsterwalds und sein erschreckender Ruf waren aus Kai-lid Entenakas Sicht ideal für ihre Einsiedlerei. Einmal pro Woche wanderte sie die zwei Meilen von ihrer Höhle nach Haven, um die Kräuter zu verkaufen, die sie sammelte, oder Sachen zu besorgen, die sie brauchte. Sie war anspruchslos.

Kai-lid führte ein ruhiges Leben am Waldrand. Für die zahlreichen Waldbewohner war sie keine Gefahr, und diese Unschuld garantierte ihrer Meinung nach ihre Sicherheit. Als sie ankam, hatten die Bewohner des dunklen Waldes sich zurückgehalten. Sie hatte gespürt, daß sie da waren, doch sie hatten sich nicht gezeigt.

Natürlich hörte sie Geschichten von den wohlmeinenden – oder einfach nur neugierigen – Bürgern von Haven, mit denen sie Handel trieb.

»Da leben Seelen von Rittern, die Hunderte von Jahren vor der Umwälzung in diesen Wäldern kämpften und starben!« hatte ihr ein Schuster geraten, als er herausgefunden hatte, wo Kai-lid wohnte. »Und Wesen, die weder tot noch lebendig sind, aber ihr Geheul kann einen in den Wahnsinn treiben. Zieh in die Stadt, Frau!«

Seine Finger waren aufgeregt über einen von Kais Sandalen geglitten, den er gerade geflickt hatte. Der Mann hatte immer mehr von den Geschöpfen des Düsterwalds erzählt. Kai-lid zweifelte nicht daran, daß an seinen Worten viel Wahres dran war. Manchmal, wenn sie den Wald betrat, um Kräuter oder andere nützliche Zauberzutaten zu sammeln, kam es ihr so vor, als ob die Bäume nicht genau da stehen würden, wo sie bei früheren Streifzügen gestanden hatten. Gelegentlich hörte sie Fetzen von wilden Liedern – wie Todesschreie der Steppenvölker –, die der Wind herantrug. Und in manchen Nächten kamen Hufschläge gerade außer Sichtweite von Kai-lids Höhle zum Stehen.

»Ich fürchte mich nicht vor den Toten. Von Lebenden habe ich Schlimmeres gesehen«, hatte sie zu dem Schuster gesagt. Ihre blauen Augen waren lila geworden, und der Zweifler war schlau genug gewesen, das Thema zu wechseln.

Kai-lid wußte, daß der Mann entsetzt gewesen wäre, wenn er erfahren hätte, daß sie sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, ihr Heim – eine Höhle aus grauem Granit in derselben Farbe wie ihre Wollrobe – mit einer Tür auszustatten. Nur ein Vorhang aus Qualinesti-Seide bedeckte die Öffnung, und dieser Vorhang war normalerweise zurückgebunden. Kai-lid liebte es, von frischer Luft umgeben zu sein. Selbst in den wenigen Fällen, wo Hagel oder Schnee das Gebiet heimsuchten, ließ sie die Wildnis ungehindert ein.

Jetzt jedoch nahm Kai-lid ein ungewöhnliches Geräusch wahr. Sie sah sich im Dunkeln um. Nichts. Sie machte ein paar Schritte, dann hörte sie es wieder – ein Klicken wie vom Öffnen und Schließen eines Kiefers. Eine Riesenameise? Es war schwer zu sagen, was an den Geschichten vom Düsterwald dran war. Zum Beispiel hieß es, daß Geistertruppen Eindringlinge fernhielten. Kai-lid jedoch kam und ging unbehelligt.

Mit einer Hand an ihren Zauberutensilien erweiterte sie ihren Lichtspruch und sah sich genauer um. Kai-lid sah nichts Auffälliges. Eine Platane, wie sie hier häufig vorkam, ragte fünfmal so hoch wie das höchste Haus von Haven in die Dunkelheit und warf im grünen Zauberlicht einen bizarren Schatten. Dort, wo die Wurzeln des Riesenbaums begannen, verriet eine Öffnung, daß die Platane hohl war, und Kai-lid wußte, hier war eine Waschbärfamilie eingezogen. Auf der feuchten Erde wuchs dichtes Farnkraut, dessen dicke Blätter sich im Wind wiegten, den Kai-lid jetzt erst bemerkte. Das Land war erfüllt vom Duft der fruchtbaren Erde, der Nässe und der Pflanzen, doch Kai-lid fand kein Anzeichen einer Gefahr.

Dann hörte sie ein neues Geräusch – ein Pochen wie von einem gewaltigen Herzen, das schnell, aber immer wieder anders schlug. Und ein Rauschen wie von tiefem Durchatmen. Wer diese Geräusche auch verursachte, er war entspannt, das war deutlich zu erkennen: Einatmen, Ausatmen, Pause… Einatmen, Ausatmen, Pause. Sie roch etwas – staubig wie Stroh, nicht unangenehm. Kai-lid bemerkte ein Rascheln, als wenn etwas sich leicht bewegte, etwas sehr Großes. Dann wieder das Klicken.

Plötzlich hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf, und jetzt wußte Kai-lid, wer in den Bäumen lauerte.

Ich bin ein böses, wildes Monster und fresse dich bei lebendigem Leib.

»Laß das, Xanthar«, antwortete Kai-lid erschöpft. »Ich bin zu müde für Spielchen. Ich muß nachdenken, und zwar allein.« Das Klicken und Rascheln und Rauschen hörte auf; das Wesen war still. »Und sei bitte nicht beleidigt.«

Die Zauberin ging weiter und folgte einer Wegbiegung, bis sie vor sich auf einer Lichtung den Eingang ihrer Höhle sah. Der blaue Vorhang war immer noch zurückgebunden. Über der Spitze einer anderen, abgestorbenen Platane kreiste der Schatten eines gewaltigen Vogels, dem man die Zurückweisung an jeder gesträubten Feder ansah. Die Zauberin blieb stehen und betrachtete den Vogel liebevoll.

Schließlich ertönte, wie sie es erwartet hatte, wieder die lautlose Stimme in ihren Gedanken. Zeit für deine Lektion in Gedankenübertragung, Kai-lid Entenaka. Du kommst spät. Ich habe mir Sorgen gemacht.

Kai-lid senkte den Kopf und entschuldigte sich: »Ich war in Haven, Xanthar.«

Die Stimme in ihrem Kopf wurde schärfer. Du weißt, ich mag es nicht, daß du allein nach Haven gehst. Ich sollte dich begleiten.

»Das haben wir doch schon so oft besprochen, Xanthar«, sagte Kai-lid ruhig, ging über die Lichtung und blieb unter der Platane stehen. »Deine Magie wird nachlassen, wenn du dich zu weit vom Düsterwald entfernst. Außerdem schlafen Rieseneulen doch tagsüber, hast du das vergessen?« In ihrer Stimme schwang unterdrücktes Lachen mit.

Und du solltest nicht vergessen, daß ich mich ganz schön weit aus dem Wald wagen kann. Die paar Stunden fehlenden Schlafs bringen mich nicht um. Nach dem, was du mir erzählt hast, bist du in keiner Stadt sicher. Du könntest jemandem aus Kernen begegnen.

»Bin ich auch.«

Auf diese Antwort war die Eule nicht gefaßt. Nach einer schockierten Pause richtete sie sich zu voller Höhe auf und schlug mit ihren großen Flügeln von zwanzig Fuß Spannweite. Die tote Platane ächzte und stöhnte in der Nachtluft, und die Windstöße wehten der Zauberin die Kapuze vom Kopf, und ihr peitschten die Haare ins Gesicht. Ein Kreischen gellte über die Lichtung, und Kai-lid krümmte sich, dehnte jedoch den Lichtspruch aus, bis sie die Eule sehen konnte.

»Xanthar, sie haben mich nicht bemerkt«, sagte sie eilig. »Ich war vorsichtig.« Trotz ihrer Erschöpfung lächelte Kai-lid die Rieseneule an.

Xanthar legte schließlich seine Flügel an. Er schob seinen goldenen Schnabel, der so lang war wie Kai-lids Arm, in den hellen Flaum an seinem Hals. Sein Gesicht war braun, grau und schwarz getupft, doch der weiße Fleck über dem linken Auge ließ ihn liebenswert verwegen erscheinen, wie Kai-lid fand. Aus seinem cremefarbenen Federkleid der Brust stachen einzelne schwarze und braune Federn hervor. Auch seine Beine waren bis hinunter zu den mahagonifarbenen Schuppen auf seinen starken Füßen befiedert. Jeder Zeh war mit einer tödlichen Kralle bewehrt. Xanthars Flügel waren mahagonibraun und gingen zum Schwanz hin in Dunkelgrau über. Die Flügelspitzen waren beige. Er wandte der Zauberin seine tellergroßen Augen mit den riesigen, unermeßlich tiefen, schwarzen Pupillen zu und betrachtete sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Ärger. Seine Füße, die immer wieder den Platanenast umklammerten und sich dann lösten, verrieten seine Aufregung.