Das Flüstern ging weiter. Es hatte eine nahezu hypnotisierende Wirkung auf die junge Frau. »Er und der Magier haben etwas sehr Mächtiges.«
Kai-lid erschauerte. Sie zog ihre Robe enger um sich. »Janusz hält mich für tot. Er würde nie darauf kommen, nach mir zu suchen. Hier bin ich sicher. Ich will nicht fort.«
»Ich weiß.« Das Einhorn senkte wieder sein Horn und zog sich langsam aus der Höhle zurück. »Aber die Zeit drängt.«
»Warte! Was soll ich tun?« rief Kai-lid.
Anstelle einer Antwort blieb das Silberwesen im Eingang der Höhle stehen. »Das wird dir helfen, Dreena. Vergiß es nicht.«
»Aber…«
Das Einhorn begann zu singen:
Als die letzte Zeile in der Nachtluft hing, begann das Licht um das Einhorn nachzulassen. Das Geschöpf trabte in den Düsterwald. »Warte!« rief Kai-lid noch einmal, während sie von ihrem Lager aufsprang und barfuß über den Steinboden rannte. Als sie die Öffnung erreichte, war das Einhorn verschwunden.
Die Nacht war still. Kai-lid hörte kein Hufstampfen, sah keinen grauen Schatten in den Wald schlüpfen. Die Lichtung war von Nebel eingehüllt.
Dann saß sie plötzlich wieder auf ihrem Lager, die Decke lag auf dem Boden, und sie zitterte in der Kälte der beginnenden Morgendämmerung.»Es war ein Traum«, beharrte Xanthar kurz darauf, als sie ihm alles erzählt hatte, was geschehen war.
»Nein«, widersprach sie. »Es war wirklich so.«
Sie saßen an ihrem Lieblingsplatz – zwei Äste, einer über dem anderen, die aus der toten Platane ragten. »Wenn du ganz hoch aufsteigst«, meinte Kai-lid trotzig, »siehst du es vielleicht noch. Aber du bist zu stur.«
»Den Legenden nach wird ein Einhorn nur sichtbar, wenn es das will. Wenn nicht, hilft kein Suchen und kein Wünschen. Außerdem habe ich noch nie gehört, daß sich ein Einhorn aus dem Düsterwald gewagt hätte.«
»Meine Höhle liegt ganz nah am Wald.« Ihre Stimme wurde lauter. »Du bist so halsstarrig. Es war wirklich meine Mutter.«
Xanthar plusterte sein Gefieder auf und setzte sich um. »Seit wann ist deine Mutter ein Einhorn? Außerdem hast du mir erzählt, deine Mutter sei tot.«
»Als ich klein war, hat sie mir erzählt, sie komme aus der Gegend nördlich von Haven. Das könnte der Düsterwald sein.«
Die Eule schnaubte und murmelte: »Wohl kaum.« Doch Kai-lid achtete nicht darauf.
»Ich habe immer geglaubt, sie sei ein Einhorn in Menschengestalt gewesen, daß sie sich in meinen Vater verliebte, ihn geheiratet hat und mit ihm nach Kern gegangen ist. Als das Leben unerträglich wurde, hat sie ihre Einhorngestalt wieder angenommen und ist nach Hause zurückgekehrt. Ich habe es nie jemandem erzählt. Aber sie wird wissen, was mein Herz glaubt.«
»Das ist romantischer Unsinn, Kai-lid. Du hast geträumt, weil du gestern in Haven etwas Falsches gegessen hast.«
»Ich habe meine Mutter gesehen.«
Das Gespräch drehte sich im Kreis, bis Eule und Zauberin dessen müde wurden. Wortlos saßen sie da, erst in trotzigem Schweigen, dann einfach in Gedanken versunken. Als schließlich der Himmel im Osten heller wurde, sagte Xanthar, als ob keine Zeit vergangen wäre: »Und du glaubst also, daß dein Vater von Süden her angreifen will?«
Kai-lid zögerte. Schließlich nickte sie. Die Eule nickte auch. »Dann müssen wir handeln«, sagte Xanthar leise.
»Wir?« fragte sie und richtete sich auf. Ihre Kapuze fiel zurück. »Du kannst dich nicht zu weit vom Düsterwald entfernen. Du würdest deine Magie verlieren.«
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Die Gesetze des Düsterwalds sind nicht überall gleich. Es heißt, daß Reisende, die tief in den Düsterwald eindringen, feststellen, daß ihre Waffen verschwinden – aber hier nicht. Es heißt, daß Geister Reisende abschrecken – aber hier nicht. Vielleicht kann ich weiter fort, als wir dachten.«
»Du hast gesagt…«
»Wir müssen den Valdan aufhalten.«
»Hier sind wir sicher.«
Die Rieseneule schwieg eine Weile. Dann sagte Xanthar: »Keiner ist irgendwo sicher.« Kai-lid dachte an Xanthars tote Gefährtin und seine Jungen.
»Du bist seine Tochter. Du kannst dich nicht vor ihm verstecken, wenn er entschlossen ist, dich zu finden.«
Kai-lid kehrte der Eule den Rücken. Ihre Stimme klang beherrscht. »Weil er Macht über das Königreich des Meir gewinnen wollte, hat er mich zu einer Heirat gezwungen, die ich nicht wollte. Als der Meir und ich uns dann verliebten und ihn von unserem Land fernhielten, hat er angegriffen. Er hat meinen Mann getötet. Soll ich das vergeben?«
»Ich rate dir nicht, etwas zu vergeben. Ich sage, daß du ihn aufhalten mußt. Vielleicht bist du als einzige dazu imstande.«
Kai-lid rutschte von ihrem Ast auf einen tieferen, dann auf den Boden. Sie blickte zu der Eule hoch. »Das kann ich nicht.«
»Du bist entkommen, weil deine Zofe zurückgegangen ist, hast du gesagt.«
Kai-lids Gesicht wurde kreideweiß. »Hör auf.«
Aber Xanthar fuhr fort. »Lida ist zurückgegangen«, sagte er. »Du hast es mir selbst erzählt, Kai-lid. Lida ging zurück. Sie zog deine Kleider an, weil ihr klar war, daß dein Vater das Schloß zerstören würde, und weil sie wußte, daß nur ein toter Körper, den man für den von Dreena ten Valdan hielt, ihn davon abhalten würde, dich zu verfolgen.«
Die Eule nahm keine Rücksicht. Kai-lid hielt sich die Ohren zu. Der Vogel ging zur Gedankensprache über.
Sie war deine Freundin. Ihr seid zusammen aufgewachsen; ihre Mutter hat euch zusammen erzogen. Und sie ist für dich gestorben. Ob Dreena ten Valdan oder Kai-lid Entenaka – kannst du jetzt selbstsüchtig sein?
Die Zauberin begann zu weinen.
Erinnere dich an jenen Morgen, Kai-lid. Erinnere dich, Dreena.
Unwillkürlich erinnerte sich die Zauberin, wie sie mit Lida aus dem Schloß geflohen war. Ihre Zofe war mitten im Fluchttunnel stehengeblieben, weil sie noch etwas vergessen hatte, und hatte Dreena gefragt, ob sie ihr Hochzeitsamulett als letzte Liebesgabe im Sarg des Meir lassen wolle.
Die Erinnerung an diesen hastigen Wortwechsel im Morgengrauen verfolgte Kai-lid noch immer. Lidas Gesicht im Schatten, auf dem sich abwechselnd Entschlossenheit und Furcht abzeichneten. Die feuchten Steinmauern des Gangs. Der Modergeruch des Erdbodens. Das Geräusch der Wassertropfen. Und, alles übertönend, das Schlagen der feindlichen Trommeln, das Dreenas Herzklopfen wiedergab. Sie hatte das Amulett abgenommen, den flachen, grünen Stein geküßt und ihn Lida in die Hand gedrückt. Halb hatte sie geahnt, was ihre treue Freundin vorhatte, doch sie hatte nichts dagegen gesagt. Dreena hatte mit Lida verabredet, daß sie sich in einer Höhle unter einem Wäldchen westlich des Schlosses treffen würden. Dann hatte die Dienerin Dreena fest umarmt, sie geküßt und, bevor sie zurückgelaufen war, geflüstert: »Meine Schwester.«
Wie viele läßt du noch sterben, damit du sicher bist, Dreena?
Kai-lid schrie auf und rannte in die Höhle zurück, wo sie sich schluchzend in die Dunkelheit hockte. Schließlich verriet ihr das Geraschel und das Kratzen von Krallen auf den Steinen, daß Xanthar am Eingang stand. Seine Gedanken waren jetzt freundlicher.
Ich glaube dir deinen Traum, Kai-lid. Aber ich glaube, er ist ein Zeichen, daß nur du deinen Vater aufhalten kannst. Er wartete. Als Kai-lid nicht antwortete, fügte er hinzu: Ich begleite dich.