»Das kannst du nicht«, flüsterte Kai-lid.
Ich lasse dich nicht alleine gehen.
»Und dann stirbt noch einer für mich, Xanthar?« wollte sie verbittert wissen.
Entschuldige. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Jeder trifft seine eigene Wahl. Lida hat sich dafür entschieden, im Schloß zu bleiben. Ich habe mich dazu entschlossen, mit dir zu gehen. Eine Art Lächeln erreichte sie mit den Gedanken der Eule. Ich sollte darauf hinweisen, daß ich entschlossen bin, heil und unversehrt zurückzukommen, damit ich meine Enkel weiter mit meinen brummigen Launen beeindrucken kann.
Kai-lid saß auf ihrem Lager, bis sie zu zittern aufhörte. Dann zog sie ihre Sandalen an, stand auf und schloß den Vorhang vor dem Eingang, so daß die Eule ausgeschlossen war.
Was hast du vor? fragte Xanthar.
»Ich habe eine Idee.«
Sie spürte die Frage der Eule und antwortete schon, bevor sie sich in ihrem Kopf formte. »Die Söldner. Vielleicht kann ich sie dazu bringen, mich zu begleiten. Sie sind gut ausgebildet.«
Die Eule zögerte, bevor sie sagte: Das ist ein guter Gedanke. Kannst du sie durch Magie finden?
»Vielleicht. Ich brauche Ruhe, Xanthar.«
Die Zustimmung des Vogels spürte sie mehr, als daß sie sie hörte. Ein Schatten fiel über den Vorhang, als Xanthar sich dort als Wache aufstellte.
Die Schale, nach der die Zauberin griff, sah von außen ganz gewöhnlich aus – auf Hochglanz poliertes Ahornholz. Aber innen glitzerte sie, denn sie war mit Gold ausgeschlagen. Genau in der Mitte unterbrach ein Symbol das gehämmerte Muster – ein eingeritztes Edelweiß.
Jetzt beugte sie sich vor und holte einen purpurfarbenen Seidenschal aus einer Ledertasche unter dem Tisch und einen mit Gold emaillierten Krug aus einer Nische in der Höhlenwand hervor. Die Flüssigkeit, die Kai-lid aus dem Krug in die Schale goß, schien gewöhnliches Wasser zu sein; es stammte aus einem nahen Fluß, der westlich von Haven in den Weißen Fluß mündete. »Ein Fluß, der am Rand des Düsterwalds entspringt«, murmelte Kai-lid ehrfürchtig.
Während sie das Wasser in die Schale goß, sah sie zu, wie das Edelweiß erst verschwamm und dann wieder scharf zu sehen war, als sich das Wasser beruhigte. »Mit der Stille kommt die Klarheit«, begann sie mit den rituellen Worten, die Janusz selbst ihr vor Jahren beigebracht hatte. Mit schlanken Fingern malte sie Zeichen in die Luft und legte den Schal, der die Farbe dunkler Trauben hatte, über ihren Kopf und die Schale. Ihre Daumen hielten die Ecken des Schals fest, doch die Finger bewegten sich weiter, während sie den Zauber wirkte. Sie schloß die Augen, um sich zu konzentrieren.
»Klarwalder kerben. Annwalder kerben«, murmelte sie. »Katyroze warn. Emlryroze sersen. Enthülle, enthülle.«
Sie machte die Augen auf und wartete. Zuerst geschah gar nichts. Dann trübte sich das Wasser, bewegte sich und veränderte sich, als sei es eine Gewitterwand. Das gleiche Graublau leuchtete in ihren Augen. Sie ließ den Schal los. Die Seiten fielen um ihren Kopf, bildeten jedoch ein Zelt über der Schüssel. Ihre linke Hand zog den Schildpattknopf aus der Tasche, den sie in dem Eingang in Haven gefunden hatte. »Ich suche den, dem dieses Ding gehört«, flüsterte sie. »Wildrag-meddow, jonthinandru. Enthülle.«
Bei dem Befehl klärte sich das Wasser in der Schale, doch von dem goldenen Edelweiß an seinem Grund war nichts mehr zu sehen. Statt dessen sah man ein Waldstück. Kai-lid unterdrückte einen Freudenschrei. Da war der Halbelf, der einen Fuchswallach durch den grauen Morgen lenkte, und hinter ihm Kitiara Uth Matar und der andere Söldner auf schwarzen Pferden. Ein gähnender Junge, der an einem langen Brötchen knabberte, ritt hinter ihnen her. Die kleine Gruppe war in ein Gespräch vertieft, doch Kai-lids Suchzauber gestattete ihr nur zu beobachten, nicht mitzuhören. Sie sah ein Stirnrunzeln auf dem Gesicht des Halbelfen, als dieser Pflanzen beiseite drückte, in der Erde herumstocherte und in der Hocke mit den Ellenbogen auf den Knien den Boden absuchte.
Kai-lid beobachtete sie einige Zeit, weil sie hoffte, sie könne aus der Umgebung schließen, wo genau sich die Gruppe befand. Natürlich nicht im Düsterwald, aber auf jeden Fall in dieser Gegend. Sie sah Ahorn, Eichen, Platanen, Pinien und Unterholz aus jungen Ahornbäumchen. Die dichten, niedrigen Büsche verrieten Kai-lid, daß die vier nah am Waldrand waren, wo das Sonnenlicht Bodenpflanzen besser erreichen konnte.
Plötzlich sah sie, wie der Halbelf erstarrte und sich vorbeugte, weil sein Blick auf dem Boden etwas entdeckt hatte. Seine ganze Haltung veränderte sich. Er war nicht mehr nur wachsam, sondern er handelte. Er sprang vom Pfad und nach rechts. Er zeigte auf etwas am Boden – einen Fußabdruck? –, während die beiden Söldner auf ihren Pferden abwarteten und der kauende Knappe schluckte. Dann zeigte der Halbelf nach rechts, praktisch in die entgegengesetzte Richtung, die, aus der sie gekommen waren. Die Söldner saßen sichtlich ungeduldig im Sattel, als der Halbelf zu seinem Pferd zurückging. Die Gruppe machte kehrt.
»Sie verfolgen etwas«, sagte Kai-lid. Sie wartete noch einige Augenblicke, bevor sie nickte. »Morgmegh, mortrhyan, merhet. Schluß jetzt.«
Das Wasser war wieder Wasser, die Schale nur eine Schale, das Edelweiß glänzte wie zuvor am Boden. Sie warf den purpurroten Schal zurück und spürte, wie er sich um ihre Schultern schmiegte. Kai-lid legte die plötzlich müden Hände an die Schläfen. Ihre schwarzen Haare fielen wie Seide vor, und ihre Aufregung kämpfte mit ihrer Müdigkeit. Xanthar wartete schweigend am Eingang zur Höhle. Aus den Geräuschen konnte er schließen, daß sie fertig war, doch er wußte auch, daß Beobachten sie immer erschöpfte.
Schließlich hob sie den Kopf und ging zum Vorhang. Ein orangefarbenes Augenpaar musterte sie besorgt. »Ich habe sie gefunden«, sagte sie ruhig.
»Ich habe nachgedacht. Vielleicht sollten wir es bleibenlassen«, unterbrach sie der Vogel. Er wetzte zweimal seinen Schnabel am Granit des Höhleneingangs. »Schließlich war es doch nur ein Traum.«
»Es war wirklich so«, fing Kai-lid wieder an. »Ich habe die beiden Söldner gesehen, dazu den Halbelfen und den Jungen. Sie jagen etwas.«
»Wo?«
Kai-lid zuckte mit den Schultern. »Bei Haven, würde ich sagen. Aber ob Norden oder Süden? Ich muß sie beobachten, bis ich Anhaltspunkte erkenne.« Stirnrunzelnd schwieg sie eine Weile. Dann sagte sie zögernd: »Glaubst du, ich kann die vier… überzeugen, diese Aufgabe zu übernehmen?«
Die Eule legte den Kopf schief. »Es sind schließlich Söldner. Du hast kein Geld. Was hast du zu bieten?«
»Ich weiß es nicht… noch nicht.« Kai-lid lehnte im Eingang und sah sich auf der Lichtung um – ihrer Lichtung. Für wenige kurze Monate hatte sie hier eine Sicherheit gefunden, die sie vorher nicht gekannt hatte. Jetzt mußte sie von hier fortgehen.
»Vielleicht erkennen sie mich«, überlegte sie.
»Als Dreena? Du bist doch verkleidet.«
»Nein, nicht als Dreena. Als mir klar wurde, was Lida getan hatte, habe ich weitgehend ihr Aussehen angenommen, um… um ihr Andenken zu ehren und Dreena für immer hinter mir zu lassen. Vielleicht erkennen sie Lida.«
Die Eule stupste sie sanft mit dem Schnabel an die Schulter, und Kai-lid grub die Finger einer Hand in die weichen Federn der cremefarbenen Brust. Xanthars Stimme drang in sie ein. Du kannst doch einfach eine neue Gestalt annehmen.
Als sie sich wieder trennten, schüttelte die Zauberin den Kopf. »Nein. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn sie Lida erkennen. Ich werde darüber nachdenken. Als erstes muß ich herausfinden, wo sie sind und wohin sie wollen.« Sie drehte sich wieder zur Höhle um, doch die Bewegung der Eule hielt sie zurück.
»Das Suchen ermüdet dich. Vielleicht kann ich sie finden«, sagte Xanthar laut, jetzt wieder in Menschensprache. Die Eule schlug mit den Flügeln. Kai-lid kniff wegen des Staubs, der plötzlich aufgewirbelt wurde, die Augen zusammen. Dann hockte sich die Eule wieder hin. »Spring auf«, lud Xanthar sie ein, während er eine der Riesenschwingen weit ausbreitete.