»Ich hole meine Sachen«, sagte sie.
9
Dem Ettin auf den Fersen
»Morgen. Schlafenszeit.«
»Nein. Soldatfrau kommt. Sagt Meister.«
»So schade. Res schläft Tage.«
»Nicht jetzt!«
»Hunger. Bald essen?«
»Vielleicht.«
»Soldaten kommen?«
»Ja, ja.«
»Gut«, beschloß Res. »Sie essen.«
»Nein!« Der linke Kopf des Ettins versuchte sich an das Wort zu erinnern, das der Meister benutzt hatte. Ein langes Wort und schon so lange her – fast eine Stunde. Der Meister hatte den linken Kopf gezwungen, das Wort – und die Warnung – viele Male zu wiederholen. »Entführen!« krähte Lacua endlich, als es ihm einfiel. »Nicht essen. Nicht, nicht, nicht.« Seine wäßrigen Schweinsäuglein blinzelten. Die linke Hand des Ettins schwang bei jedem »nicht« die Keule.
Der rechte Kopf spuckte aus. Dann hellte sich Res’ Miene auf. »Sind vier«, drängte er. »Einen entführen«, er zögerte, weil das Rechnen so schwer war, »Rest essen?«
»Entführen«, wiederholte Lacua. »Nicht essen. Nicht.«
»Einen? Nur?«
Diesen Vorschlag gab es zu bedenken. Der Meister, mit dem er kurz vor Sonnenaufgang durch den Redestein gesprochen hatte, hatte befohlen, die Soldatfrau zu einem bestimmten Berg im Düsterwald zu locken, sie zu fangen und zu warten. Aber zu ihren Begleitern hatte Janusz sich nicht geäußert. Die Frau sollte entführt werden, hatte der Zauberer gesagt. Das bedeutet… ja, was? Die anderen sollten nicht entführt werden? Oder doch? Lacua grübelte. Die vielen Möglichkeiten machten ihm Kopfschmerzen. Aber schließlich entschied er: »Frau fangen, ein Nichtfrau essen.« Die beiden Köpfe lächelten und zeigten dabei ihre verfaulten Zähne. Der Ettin, dessen vier Äuglein nach Niederwild Ausschau hielten, wanderte weiter nach Norden und achtete darauf, reichlich Fußspuren zu hinterlassen, wie es der Meister befohlen hatte.
Stunden später, als die Sonne gerade den Zenit überschritten hatte, standen Tanis und seine Gefährten an derselben Stelle und starrten auf die Fußspuren – fast drei Finger tief, der rechte Fuß größer als der linke – und dann in die Richtung, in die sie führten.
»Düsterwald«, flüsterte Caven. Tanis nickte, während seine Augen das Unterholz absuchten.
Es gab keinen langsamen Übergang von ihrem Wald zum nächsten. Vielmehr war es, als habe der eisige Finger eines wütenden Gottes zwischen den Bäumen eine Linie gezogen. Die auf der einen Seite behielten ihr normales Aussehen, während die anderen abstarben oder sich krümmten. Ein feuchter Wind drang aus dem Wald, bei dem es den beiden Männern kalt den Rücken hinunterlief. Obwohl ein leichter Wind die alten Blätter bewegte, nahmen ihre Ohren kein Geräusch wahr.
Wod fummelte in der Mähne seines Pferds herum. »Das ist die Stille des Abgrunds«, sagte er leise. Kitiara schlug ihm auf den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen.
»Halbelf«, sagte Mackid fast flüsternd. »Eins muß ich dir sagen: Ich ziehe schon lange auf Ansalon herum, aber so ein böses Land habe ich noch nie gesehen.« Tanis nickte wieder. Er war tief in Gedanken versunken.
Ohne weitere Worte stiegen die Gefährten ab und zogen ihre Schwerter. Selbst Wod hatte ein kleines Messer, das ihm offenbar einen gewissen Trost spendete. Plötzlich meldete sich der Junge wieder, diesmal mit zitternder Stimme. »Die Bäume bluten!« Bebend zeigte er auf eine Pinie.
Die anderen drei sahen zu der Stelle hin, auf die der Knappe wies. Über Cavens Gesicht legte sich ein seltsamer Ausdruck. »Bei den Göttern, Wod, das ist nicht die rechte Zeit für Scherze!« fuhr er auf. Mit geballten Fäusten wollte er auf den Jungen losgehen.
Mit einer Hand zog der Halbelf Caven zurück. »Du siehst Blut, Wod?« fragte er ruhig.
Die Stimme des Jungen klang schrill. Mit bebenden Händen und zitterndem Messer stieg er auf, wobei er fast die Zügel durchgeschnitten hätte. »Seid ihr alle blind? Seht ihr es denn nicht?« schrie Wod. »Blut, halbverkrustet, es rinnt in dicken Tropfen die Rinde herab.« Er riß an den Zügeln, doch inzwischen stand Kitiara neben dem Pferd, nahm dem Jungen das Messer ab und hielt seine Stute fest.
Tanis sah sich noch einmal den Baum an, konnte jedoch nichts Unauffälliges entdecken. Er sah nur einen Streifen von etwas, das wie Harz aussah – leicht rosa, richtig, aber eindeutig Harz, kein Blut. Er redete auf Wod ein, wie er auf ein scheuendes Pferd eingeredet hätte. »Nur an diesem Baum, Wod? Oder auch an anderen?«
Caven schwollen die Halsadern an. »Du glaubst diesem feigen –?«
»Er sieht etwas«, unterbrach ihn Tanis. »Vielleicht können wir unseren Sinnen nicht trauen. Der Düsterwald kann verschiedenen Augen unterschiedlich erscheinen.«
»Der Düsterwald«, wiederholte Caven. Sein Zorn war ebenso schnell verraucht, wie er aufgeflammt war. Er nagte an seiner Unterlippe. »Vielleicht sollten wir erst morgen früh hineinreiten«, schlug er vor. »In ein paar Stunden wird es schon dunkel. Und wenn sie hinten in Haven zehnmal fünfzehn Stahlmünzen für den Ettin bieten, das ist es nicht wert, dafür nachts durch den Düsterwald zu schleichen. Wir sollten vernünftig sein und bis morgen warten.«
Tanis sagte nichts. Er hatte eine ähnliche Taktik vorschlagen wollen. Doch Kitiara schnaubte nur. Sie war von einem Fuß auf den anderen getreten, während die beiden Männer die Fußspuren untersucht und festgestellt hatten, daß der Ettin im Wald verschwunden war. »Ihr drei könnt euch ja draußen verstecken, aber ich für mein Teil habe keine Angst vor dem Unbekannten!« rief sie. »Außerdem ist die Spur frisch. Der Ettin kann nicht weit sein. Wir können ihn fangen und bis zum Abend schon wieder auf dem Weg nach Haven sein.«
Sie sprang auf Obsidian und lenkte die Stute in den Wald, ohne sich darum zu kümmern, ob ihr jemand folgte. Wod begann sein Pferd rückwärts vom Wald fortzulenken.
Die anderen beiden blieben, wo sie waren. »Wir können sie doch nicht allein da reinlassen, Halbelf«, sagte Caven fast flehentlich.
»Hatte ich auch nie vor«, sagte Tanis kurz angebunden und ging auf seinen Wallach zu. »Du kannst natürlich umkehren.«
Caven wurde rot. Dann forderte er Wod auf, sich in Gang zu setzen – vorwärts –, bestieg Malefiz und drängte den Hengst an Paladin vorbei. Ängstlich bemüht, an einem so bedrohlichen Ort nicht allein zurückzubleiben, folgte ihnen Wod in den Düsterwald.
Die Verfolgung war einfach – fast lächerlich einfach, wie der Halbelf fand. Entweder war das Wesen ausgesprochen dumm, daß es so offensichtliche Spuren hinterließ, oder es hatte großes Vertrauen in seine Fähigkeit, jeden Verfolger abzuwehren. Tanis mußte nicht einmal absteigen, um die Spur mit den fünf Zehen zu sehen. Jeder Fußabdruck war so lang wie seine Hand und sein Unterarm.
Gebrochene Äste und von schweren Füßen zertretene Piniennadeln wiesen ihnen den Weg. Ihr Pfad schlängelte sich zwischen verkrüppelten Pinien hindurch und erwies sich stellenweise als kaum passierbar. Die Pinien drängten sich um sie zusammen; manchmal standen die Stämme gerade eben weit genug auseinander, um ein Pferd durchzulassen. Es war beinahe so, als ob die Bäume nach allem langten, was sie streifte, überlegte Tanis. Mit einem Fluch vertrieb er diesen Gedanken und sah sich mißtrauisch um. Hoch über ihren Köpfen breiteten die Nadelbäume ein dichtes Dach über ihnen aus. Dunst schien über dem Wald zu liegen – zumindest kam es dem Halbelfen so vor. Die Luft des Spätnachmittags war gelblich grau und drückend feucht, und Tanis stellte fest, daß er nur wenige Schritte weit sehen konnte.
Eine Zeitlang ritten sie schweigend dahin. Tanis führte die Gruppe, gefolgt von einem nachdenklichen Caven, einer betont unbeschwerten Kitiara und direkt hinter Obsidians Hufen dem widerwilligen Wod. Immer wieder warf der Knappe angeekelte Blicke auf den einen oder anderen Baumstamm und lenkte sein Pferd in weitem Bogen drumherum. Caven wurde immer schreckhafter. Bisher hatte der Halbelf nichts Seltsameres als den lastenden Dunst entdeckt. Dennoch kam es ihm so vor, als ob jedes Lebewesen um ihn herum – und an die Geschichte über Tote wollte er gar nicht erst denken – auf den Punkt starrte, wo sein Puls an der Kehle klopfte. Vergeblich versuchte er, den Dunst mit seiner Nachtsicht zu durchdringen. »Wird es im Düsterwald früher dunkel?« murmelte er in sich hinein.