Tanis hörte einen Aufschrei, als Caven Malefiz etwas langsamer gehen ließ und Obsidian praktisch in den schweren Hengst hineinrannte. Malefiz trat nach Kitiara und ihrem Pferd. Kitiara blieb zwar fest im Sattel, als Obsidian beiseite sprang, griff jedoch zu ihrer Peitsche und zog Cavens Hengst damit eins über. Schnaubend tänzelte Malefiz zur Seite, blieb aber stehen, da Caven an den Zügeln riß. Wod, den der Hengst aus Mithas schon oft gequält hatte, kicherte nervös. Die glänzende Haut des Hengstes war häßlich aufgeplatzt, und Blut quoll hervor. Caven wollte Kitiara Vorwürfe machen.
Die Kriegerin fauchte ihn an und schnitt ihm gleich das Wort ab. »Wenn du mit mir unterwegs bist, Mackid, hältst du dein Pferd im Zaum, oder ich bringe es um – mit bloßen Händen, wenn nötig. Verstanden, Soldat?«
Mackid nickte mit offenstehendem Mund. Kitiara holte tief Luft. Zweifellos wollte sie dem Mann weiter den Kopf waschen, doch der Halbelf unterbrach sie.
»Bis jetzt dachte ich, du habest vor gar nichts Angst, Kit«, sagte Tanis. »Aber jetzt sehe ich, daß du es nur besser verbergen kannst als wir anderen.«
»Ich – «, setzte sie mit wütenden Blicken an. »Was für ein Temperament«, murmelte der Halbelf. Kitiara war sprachlos. Tanis fragte den Jungen: »Bluten die Bäume immer noch, Wod?« Der Knappe biß sich auf die Lippe, warf einen Blick auf einen Ahornschößling neben sich und nickte. Der Halbelf nahm das zur Kenntnis und fragte dann Caven: »Und was siehst du, Mackid?« Als der Söldner aus Kern nur den Kopf schüttelte, sagte Tanis: »Ich sage euch, was ich sehe. Ich sehe Dunst, wie tropischen Nebel, der sich um uns schließt.«
»Wie ein Leichentuch«, fügte Wod hinzu, dem die Worte einfach so zu entschlüpfen schienen.
»So sieht es Wod. Was ist mit euch?«
Kitiara stieß etwas aus wie »dieser Haufen abergläubischer Schwächlinge.« Caven sah sie an, zog eine Augenbraue hoch und sagte dann gedämpft zu Tanis: »Ich sehe Männer, die sich am äußersten Rand meines Sichtfelds in diesem verdammten Wald aufstellen.«
»Männer?« Tanis sah dorthin, wo Caven es zeigte, doch der Halbelf sah nichts als Dunst.
»Ich kenne diese Männer.« Tanis wartete geduldig, bis Caven tief Luft geholt hatte. »Es sind Männer, die ich auf dem Schlachtfeld getötet habe. Sie sind alle da, jeder einzelne. Ihre Wunden bluten noch. Sie haben verstümmelte Glieder, halten ihre Eingeweide fest, damit sie nicht herausquellen. Ihre Augen«, er rang um Worte, »ihre Augen sind scharlachrot, und sie warten hier auf mich, seit wir uns in diesen verfluchten Wald gewagt haben.«
Ein Stöhnen und Krachen ließ sie alle zusammenzucken. Es war Wod, der ohnmächtig neben seinem verängstigten Pferd lag.
Kitiara hänselte Wod pausenlos, nachdem er wieder zu sich gekommen war. Selbst Tanis begann sich über die Kriegerin zu ärgern, und schließlich meinte Caven, Kitiara solle die Nachhut übernehmen. »Dann brauchen wir dein Genörgel nicht mehr zu hören«, erklärte er, als sie Einwände erhob. Kitiara hätte sich gewehrt, doch genau in diesem Augenblick überfiel sie wieder eine Welle von Schwindel und Übelkeit, die sie ebensosehr ärgerte, wie sie ihr zusetzte. Sie ließ die anderen ohne ein weiteres Wort vorausziehen.
Jedenfalls war das nicht mehr der Kater von dem Besäufnis der letzten Nacht, dachte sie, als die anderen drei vor ihr ritten. Sie hatte den ganzen Tag gegen ihre Erschöpfung angekämpft, und einmal hatte sie sich tatsächlich dabei ertappt, wie sie halb vom Pferd rutschte, weil sie im Sattel eingenickt war. Sie hatte sich ruckartig aufgesetzt und ihre Locken zurückgeschüttelt, um den Beinahesturz zu überspielen. Doch diese erneute Welle von Übelkeit und plötzlichem Schwindel war schwerer zu verbergen. Das fehlte gerade noch, erst verhöhnte sie Wod, und dann brach sie selbst zusammen.
Sie hielt ihr Pferd zurück und ließ die anderen drei ein Stück vorausreiten. Alle waren überaus schweigsam; niemand witzelte, wie Kitiara es von anderen Raubzügen gewohnt war. Man hörte nur den Hufschlag der Pferde, das Knarren von Tanis’ Sattel, wenn dieser sich vorbeugte, um die Fußspuren des Ettins zu suchen, und ihre eigenen, angestrengten Atemzüge. Als sie weit genug entfernt waren, lehnte sich Kitiara vorsichtig aus dem Sattel und übergab sich in einen Busch am Weg. Dann zwinkerte sie ein paarmal, um wieder richtig sehen zu können, und spornte Obsidian zum Trab an.
Die Dämmerung brach an. Es war, als ob etwas, das sie beobachtete, beschlossen hatte, daß es an der Zeit sei, die Schlinge zuzuziehen. Sie hatten ihre Schwerter wieder eingesteckt, doch die Hände blieben immer nahe am Gürtel.
»Halbelf«, rief Kitiara. »Kannst du jetzt etwas mit deiner Nachtsicht anfangen?«
»Hab’ ich versucht«, gab Tanis zurück. »Ich sehe nichts als Bäume. Einfach gar nichts – keine kleinen Tiere, keine Vögel. Nichts als den Dunst.«
Kitiara knurrte. Bei einem plötzlichen Geräusch hinter ihr zog sie mit dem Reiben von Metall an gegerbtem Leder ihr Schwert. »Halbelf«, rief sie wieder. »Schau mal nach hinten.«
Tanis und Caven gehorchten. Caven fluchte. »Der Pfad«, murmelte Tanis.
»Weg!« fügte Caven überflüssigerweise hinzu.
Wod stöhnte. Es stimmte. Wie eine Phalanx Soldaten hatten sich die Bäume hinter ihnen geschlossen. Beide Männer zogen ihr Schwert. Wod umklammerte zitternd sein Messer.
In diesem Moment verwandelte sich der Nachmittag urplötzlich in Nacht. In dem einen Augenblick konnten sie einander und die gemarterten Bäume noch sehen, im nächsten sahen sie nur noch undurchdringliche Finsternis.
Wods Stimme drang bebend aus der Dunkelheit. »Onkel Caven?«
»Genau hier.« Mackid hatte sich nicht gerührt, das war Kitiara klar.
»Wenigstens können wir uns hören.« Das war Tanis’ Stimme.
»Wir sind nicht allein«, sagte Kitiara plötzlich.
Die Luft begann zu glühen, und Kitiara sah im Widerschein des Lichts die Gesichter ihrer Begleiter. Das glühende Licht drang aus zwei Augäpfeln. Direkt unter den Augen zeigten sich zwei Skeletthände, die von grünem Feuer umrahmt waren. »Tanis«, wiederholte Kitiara. Ihr Mund war trocken.
»Ich seh’s, Kit.« Tanis stieg ab und kam langsam zu ihr.
»Was ist das?« fragte Caven.
Kitiara antwortete: »Ein Wichtlin.«
»Was ist das?«
Tanis sah Kitiara an. Sie hatte ihren Helm aufgesetzt. Obwohl Obsidian rastlos, fast außer sich vor Furcht herumtänzelte, saß Kitiara gerade aufgerichtet auf ihrer Stute. Mit einer Hand hielt sie die Zügel, mit der anderen das Schwert. Ihr Gesicht war blaß, aber direkt unter der Haut zeichneten sich knallrote Streifen auf ihren Wangenknochen ab. Kitiara war jetzt in ihrem Element, wie Tanis wußte.
Der feuerumsäumte Wichtlin kam nicht auf die Kriegerin zu, doch sein Blick wich nicht von ihr. Ihrer war ebenso fest.
»Wichtlins«, flüsterte Tanis Caven zu, »sind elfische Untote.«
»Bei den Göttern!« stieß Caven aus. »Und es sind nur Augen und Hände, sonst nichts? Wie bekämpft man so etwas?«
»Es ist noch mehr da – der Rest von dem zerfallenen Skelett«, sagte Tanis. »Sei dankbar, daß du es nicht sehen kannst.« Wods Zähne klapperten.
»Und das war mal ein Qualinesti?«
»Silvanesti«, stellte Tanis richtig. »Manche Silvanesti-Elfen, die zu Lebzeiten dem Weg des Bösen folgen, werden nach dem Tod vom Chemosh beansprucht.«