»Ich werde nicht angreifen, bevor wir sicher wissen, wo Dreena ist!« sagte der Valdan. »Seit sie die Zinnen verlassen hat, hat Janusz immer wieder seine magischen Künste eingesetzt, doch er kann sie nicht finden. Wir wissen nur, daß sie lebt. Ich muß wissen, wo sie steckt, bevor wir einen Angriff riskieren.« Er donnerte zum Nachdruck mit der Faust gegen den mittleren Zeltpfosten. Die Generäle schluckten, als die Stange knirschte und die Plane einzustürzen drohte. Janusz stieß ein einziges Wort aus, woraufhin sich der Mittelpfosten beruhigte. Besorgt warfen sich die Generäle einen Blick zu.
Feiglinge, dachte Kitiara. Da ihr jüngerer Bruder ein Zauberer war, war sie mit solchen Künsten vertrauter als die zumeist abergläubischen Bewohner der Gegend im Nordosten von Neraka.
Die Männer beachteten sie immer noch nicht. Kitiara mischte sich ein: »Dreena ten Valdan ist entkommen.«
Die Männer fuhren zu ihr herum. Kitiara merkte, wie ihr rechter Mundwinkel zuckte. Es war wirklich komisch – ängstliche, kleine Generäle, die wie Marionetten hin und her gerissen wurden. Der Valdan kniff die Augen zusammen; sie unterdrückte ein Kichern.
»Meine Tochter hat das Schloß verlassen?« fragte der Valdan.
Kitiara erwiderte seinen Blick unbeirrt und antwortete mit klarer Stimme: »Gerade eben. Ich habe sie selbst gesehen.«
»Bist du sicher?« drängte der Zauberer. »Ich habe unablässig gesucht…« Ein Blick des Valdan brachte ihn zum Schweigen.
Einer der Generäle, der selbstherrliche, meldete sich zu Wort. »Wir müssen sicher sein«, sagte er großspurig, kniff die Augen zusammen und rieb sich das Kinn. »Um so besser, wenn sie geflohen ist. Wenn Dreena ten Valdan im Kampf umkommen würde, könnten sich die Meiri-Bauern gegen uns auflehnen.«
Der zweite General schloß sich an. »Die Meiri-Bauern waren dem Meir treu ergeben, aber seine Frau beten sie regelrecht an. Wir sollten wirklich ganz sicher sein, daß der Hauptmann sich nicht irrt.« Sein Blick deutete an, wie wenig er von Kitiaras Zuverlässigkeit hielt. »Ich schlage vor, wir warten«, schloß er.
Kitiara ignorierte die beiden und wendete sich an den Valdan. »Ich bin sicher, daß Dreena das Schloß des Meir verlassen hat, so wahr ich hier vor Euch stehe.« Ihr Blick ließ nicht locker.
Der Anführer nickte Janusz zu. »Angreifen.«
Janusz verbeugte sich und verschwand. Auch die Generäle gingen. Kitiara wartete vor dem Zelt des Valdan, bis der Zauberer, dessen dünnes, weißes Haar um den Kragen seiner schwarzen Robe flatterte, in seinem eigenen Zelt verschwunden war. Dann folgte sie Janusz. Als sie das Zaubererzelt erreichte, stellte sie sich an die Zelttür, zog sie einen Fingerbreit auf und spähte hinein. Wissen war Macht, wie ihr Söldnervater ihr immer wieder gesagt hatte. Es konnte nichts schaden, wenn sie mehr über den geheimnisvollen Zauberer in Erfahrung brachte.
Janusz blickte weder nach rechts noch nach links, sondern ging direkt zu seinem Feldbett, unter dem er eine Truhe hervorzog. Er schnippste eine Prise grauen Staubs in die Luft, flüsterte »Rrachelan« und öffnete dabei ein magisches Schloß. Dann klappte er den schweren Deckel auf, griff hinein und zog ein Sandelholzkästchen heraus, das mit geschnitzten Minotauren und robbenähnlichen Tieren mit gewaltigen Stoßzähnen verziert war.
Er wiederholte das Zauberwort mit leicht abgewandelter Betonung und öffnete das Kästchen. Erleichterung zog über sein Gesicht. »Die Macht von zehn Leben für den, der das aufbringt«, flüsterte er. Kitiara merkte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten.
Janusz steckte seine Finger in die Kiste und holte zwei – ja, was? – heraus. »Edelsteine« wäre das richtige Wort gewesen, aber die Steine waren mehr als das, sie glühten in einem unirdischen Licht. Einst, auf einer Reise im Süden der Khurmanischen See zweihundert Meilen weiter südlich, hatte Kitiara eine Halskette aus Amethysten gesehen, die im Lampenlicht violett geleuchtet hatten, draußen jedoch das tiefe Blauviolett des dunkelsten Ozeans angenommen hatten. Jene khurmanischen Steine waren jedoch bloß Kiesel gewesen, verglichen mit diesen hier. Sie strahlten gleichermaßen die Hitze des Lichts und die Kälte des Winters aus.
Eis, dachte Kitiara. Sie sehen aus wie glühende, purpurne Ovale aus Eis, so groß wie Rotkehlcheneier. Noch nie hatte sie so etwas Schönes gesehen. Ihr Atem ging schneller.
Der Zauberer hatte gesagt, sie besäßen Macht. Kitiara wußte, daß er die Wahrheit sagte.
»Zauberer!« Der Valdan rief aus seinem Zelt. Der Magier blickte hoch und entdeckte Kitiara an der Zelttür. Eilig ließ er die beiden Steine in eine Tasche seiner Robe gleiten, und das seltsame, purpurfarbene Licht erlosch so vollständig, als seien die Juwelen nie dagewesen. Janusz konnte kaum sprechen, so schüttelte ihn die Wut. »Auf deinen Posten, Hauptmann«, brachte er heraus. »Und vergiß, was du hier gesehen hast, sonst wirst du plötzlich merken, daß du einen Fischkopf auf den Schultern trägst.«
Kitiara tat so, als würde sie sich schnell von der Zelttür zurückziehen, doch gleich darauf spähte sie wieder hinein. Der Magier holte tief Luft, so wie Kitiara es von ihrem Bruder Raistlin kannte, wenn der seine Gedanken leeren und sich auf einen Zauberspruch konzentrieren will. Dann drehte sich Janusz um und fegte aus dem Zelt. Kitiara hatte gerade noch genug Zeit, um sich hinter der Ecke des Zelts zu ducken.
Der Zauberer lief zu einer Lichtung, die ein Stück unterhalb der Zelte lag. Dort konnte er das Schloß gut erkennen. Seine Hände zuckten. Es war, als ob seine Finger ein Eigenleben hätten, während sie durch die komplizierten Bewegungen tanzten, die den Spruch begleiteten.
»Ecanaba ladston, zhurack!« sang der Magier.
Kitiara merkte, wie ihr Gesicht kribbelte, und wandte den Blick ab. Sie hörte Janusz weitersingen. Verwandelte er sie jetzt doch in einen Fisch? Sie schaute sich nach etwas Glänzendem um, einem Spiegel oder einer Pfütze Tauwasser, die ihr verraten sollte, ob sie noch Kitiara Uth Matar war. Aber noch während sie sich umsah, erinnerte sie eine Stimme in ihrem Kopf daran, daß der Zauberer das Kästchen nicht verschlossen hatte. Auf einmal riß Donnergrollen sie aus ihren Gedanken. Sie blickte nach oben.
Über dem Schloß des Meir ballten sich Wolkentürme zusammen, eine Gewitterwand so hoch wie ein Dutzend Schlösser. Der Himmel über dem Söldnerlager war plötzlich klar. Die Soldaten verließen ihre Posten. Starr vor Schreck und mit offenem Mund wurden sie Zeuge, wie der Zauberer dort am Hang die Herrschaft über die Naturgewalten an sich riß und diese gegen den Feind führte. Die Menschen an der Brustwehr des Schlosses waren fast ebenso still. Mit wachsendem Entsetzen blickten sie nach oben.
Über ihnen pulsierte die Wolke. Gelbe, blaue und rote Blitze brachen aus dem wogenden Nebel. Der Donner hallte in Kitiaras Kopf nach. Sie mußte sich zwingen weiterzuatmen. Ihre Knie wurden butterweich, und sie mußte sich gegen einen Baum lehnen. Hätte sie sich jetzt verteidigen müssen, wäre sie so leicht gefallen wie blutige Anfänger. Doch den Söldnern näherte sich kein Angreifer.
Dann öffnete sich die Wolke mit einem Mal und ließ Feuer auf die Verteidiger des Schlosses herabregnen.
Soldaten, Bauern und Adlige schrien und versuchten entsetzt und vergeblich, dem flüssigen Feuer zu entkommen. Einigen gelang es, ihre Kleider auszuziehen, nur um dann zu bemerken, daß der Schwefel auf ihrer Haut haftet. Viele stürzten sich von den Schloßmauern, um den qualvollen Tod abzukürzen. Andere versuchten vergeblich, das Schloß zu beschützen, indem sie Pfeile auf die Armee der Belagerer abschossen, die sicher außerhalb ihrer Reichweite wartete.
Machtlos gegen den Schwefel verbrannten die Anhänger des Meir wie lebende Fackeln. Das Holztor des Schlosses explodierte. Das Obergeschoß stürzte ein. Ein Teil der Schloßmauer brach auf, so daß Kitiara durch den Spalt den Inhalt von Wassertrögen kochen und blubbern sah. Dann zerbarsten auch die Tröge.