Über der Schulter trug sie einen großen, anscheinend schweren Beutel. Die Lederriemen, mit denen man ihn verschließen konnte, waren zusammengeknotet. Der Sack zeigte die Umrisse von etwas Großem, Rundem, das an einer Seite flach sein mußte, und als die Bewegungen der Frau den Sackinhalt verschoben, zeigte sich, daß die andere Seite wohl gewölbt war. Das Gesicht der Frau war ausdruckslos, die lebhaften Augen waren der einzige Hinweis auf ihr Menschsein. Doch ihre Stimme klang freundlich. »Xanthar und ich sind stundenlang auf der Suche nach dir umhergeflogen, Hauptmann Uth Matar. Ich bin froh, daß wir dich endlich gefunden haben.«
Kitiara bellte los: »Du kannst zaubern? Die Eule kann zaubern?«
Lida Tenaka nickte dem Vogel zu. Ihr Haar schien über ihre Robe zu fließen. »Xanthar verfügt über gewisse Kräfte. Innerhalb einer bestimmten Entfernung und mit bestimmten Lebewesen kann er Gedanken übertragen – vor allem mit Menschen und anderen Rieseneulen. Und wie du siehst, kann er sich anderen fühlenden Wesen gedanklich mitteilen.«
»Fühlenden Wesen«, wiederholte Kitiara. Es klang wie eine Beleidigung.
»Denkende Wesen.«
»Kann er Gedanken lesen?«
Lida zuckte mit den Achseln. »In sehr begrenztem Maße kann er erkennen, was andere denken.«
»Diese Fähigkeit entwickelt sich langsam, wenn man viel, viel übt«, unterbrach der Vogel grantig.
»Kann er meine Freunde wiederbeleben? Kannst du es?« Rasch erzählte sie ihnen von dem Wichtlin und vom Schicksal ihrer Freunde.
Die Eule und die Zauberin sahen sich an. Kitiara spürte, daß sie ihr gegenüber nicht völlig offen waren. »Könnt ihr es oder nicht?« fragte sie herausfordernd.
»Sie träumen, glaube ich«, flüsterte Xanthar mit rauher Stimme. Lida warf ihm einen überraschten Blick zu, doch keiner erklärte etwas.
Lida redete langsam. »Ob ich ihnen helfen kann, hängt davon ab, wie sie verzaubert wurden und von wem. Es ist nicht leicht für einen Zauberer, die Sprüche eines anderen aufzuheben.«
»Aber du wirst es versuchen.«
»Wirst du dann auch mir helfen?« fragte die Magierin.
Kitiaras Blick fiel auf den verzauberten Tanis, dessen Körper mitten in der Bewegung erstarrt war. Lidas grünes Zauberlicht ließ ihn beinahe lebendig erscheinen. Einen Augenblick kam es ihr so vor, als würden die Mandelaugen des Elfen ihr zublinzeln. Eine Warnung? »Ich werde es mir überlegen«, sagte Kitiara schließlich. »Mehr kann ich nicht versprechen.«
Nach einer Weile sagte die Eule voller Sarkasmus: »Eine interessante Einstellung, Hauptmann, wenn man bedenkt, daß du es bist, nicht wir, die allein und ohne Hilfe im Düsterwald gefangen ist«, knurrte er.
»Xanthar«, mahnte Lida warnend. Die Eule schnaubte und drehte beiden den Rücken zu.
Nachdem Lida hinter der Eule hervorgetreten war, wobei sie ihr zärtlich über den Flügel gestrichen hatte, trat sie zu Caven. Sie legte ihre schlanken Hände auf die Nüstern von Malefiz und schloß die Augen. Nach einer Weile schlug sie sie wieder auf. Lida setzte an: »Ich kann nicht – «
»Doch, du kannst, Lida«, mischte sich die Eule plötzlich drängend ein. »Nimm den Spruch ›Verzauberung brechen‹.«
»Den… Aber es gibt keinen…« Der warnende Blick der Eule ließ Lida verstummen. Sie runzelte die Stirn. Die Eule sah ihr tief in die Augen, und als die Stille anhielt und Lidas Augen in plötzlichem Erschrecken groß wurden, erkannte Kitiara, daß Xanthar telepathisch mit der dunkelhäutigen Frau Kontakt aufgenommen hatte. Schließlich nickte Lida. »Na gut, Xanthar. Ich bin froh, daß du das vorgeschlagen hast. Das könnte gehen.«
»Kann jedenfalls nichts schaden«, murmelte die Eule mit einem bösen Blick zu Kitiara. »Schließlich sind sie jetzt alle praktisch tot. Viel schlimmer kann es kaum werden. Außer vielleicht, wenn man untot ist…«
»Halt!« brach es aus Kitiara hervor. »Nicht!«
Xanthar schob sich zwischen sie und Lida. Im ersten Impuls wollte Kitiara ihn durchbohren, doch statt dessen mußte sie ihm tief in die Augen sehen. Daran solltest du nicht einmal denken, Mensch. Die Kanten seines gewaltigen Schnabels waren, wie sie jetzt bemerkte, so scharf wie eine Schwertklinge. Kitiara trat vorsichtig zurück und spähte an der Seite vorbei.
Lida stand vor Malefiz. Sie streichelte dem Tier die Flanke, murmelte seltsame Silben und verstreute ein paar Prisen grauen Puder aus einem Beutel. Dann ging sie zu Wod und seinem Pferd und tat dasselbe. Darauf wendete sie ihre Aufmerksamkeit dem Halbelfen zu. Zuletzt trat sie zurück und stellte sich neben Xanthar.
»Bleib zurück«, warnte Lida Kitiara. »Für die drei ist keine Zeit verstrichen. Sie werden glauben, daß sie immer noch mit dem Wichtlin kämpfen.« Sie riß dramatisch die Arme hoch, warf den Kopf zurück und sang. Kitiara runzelte wieder die Stirn.
»Barkanian softine, omalon tui.« Lida wiederholte den Satz dreimal und legte dabei nach jedem Wort eine Pause ein. Beim ersten Ruf verloren die Gestalten auf der Lichtung ihren statuenhaften Glanz. Beim zweiten kehrte ein rosa Lebensschimmer in die Gesichter zurück. Und beim dritten Gesang sprangen sie los, um die Bewegung zu Ende zu bringen, zu der sie vor Stunden im Kampf gegen den Wichtlin angesetzt hatten.
Tanis warf sich zu Boden und rollte beiseite. Perplex blieb er liegen. Dann sah er Kitiara. »Kit? Geht es dir gut?«
Kitiara spottete: »Mir geht es immer gut.«
Caven war inzwischen damit beschäftigt, den sich aufbäumenden, bockenden, beißenden Malefiz zu bändigen. Wod und sein Pferd trabten zur Seite, um den Hufen auszuweichen. Der Söldner aus Kern brachte sein Tier schließlich vor Kitiara, Lida und Xanthar zum Stehen. »Bei den Göttern! Eine Rieseneule! Ich dachte, die gibt es nur im Märchen«, rief er aus. »Was hatte ich bloß für einen Traum: Meine Mutter kam und hat mir eine haarsträubende Geschichte über den Val…« Als er Lida Tenaka bemerkte, blieben ihm die Worte weg. »Du bist Dreenas Zofe«, sagte Caven überrascht.
Tanis kam näher. »Hast du auch von deiner Mutter geträumt?« Wod stöhnte, und die Kämpferin drehte sich zu ihm um. »Und du?«
»Ihr habt alle im Traum ein Omen gesehen«, sagte Lida beruhigend. Die Zauberin begann, ein Gedicht aufzusagen. Mit jedem Wort wurden die Gesichter der vier Reisenden ernster und aufgeregter. Am Ende sagte Caven die Zeilen mit ihr zusammen.
Einen Herzschlag lang sagte keiner ein Wort. Dann begannen alle zugleich zu reden.
»Es war meine Mutter, sage ich euch.«
»Aber meine starb bei meiner Geburt.«
»Meine auch.«
»Aber meine lebt.«
»Was hat das zu bedeuten?«
Und die ganze Zeit jammerte Wod: »Ich will zurück nach Kern.« Vergeblich versuchte Kitiara, die anderen drei davon abzubringen, sich über das Omen den Kopf zu zerbrechen. Sie sollten lieber die Verfolgung des Ettins wieder aufnehmen.
»Zum Abgrund mit dem Ettin«, schrie Caven von Malefiz herunter. »Das Vieh muß längst über alle Berge sein.«
»Ihr sucht einen Ettin?« fragte Xanthar plötzlich.
Kitiara nickte. »Hast du ihn gesehen? Wo? Sag schon!«
Die Eule machte einen Schritt zurück und wiegte ihren großen Kopf von einer Seite zur anderen, so daß man den weißen Fleck über ihrem linken Auge leuchten sah. »Nein, nein. Ich habe mich nur gewundert, warum ihr hier im Wald einen Ettin sucht. Normalerweise leben sie nicht in dieser Gegend.«