Der Eisvolkjunge stocherte am Rand des gewaltigen Vorsprungs herum, denn er suchte nach Splittern vom Frostsplittereis, die durch Eisbewegungen abgespalten worden waren. Das stahlharte Material konnte zu Schabern, kleinen Messern und sogar Näh- und Stricknadeln verarbeitet werden, doch nur der Verehrte Kleriker konnte den Gewinn der großen Stücke überwachen, die für die traditionelle Waffe Des Volks geeignet waren: die Streitaxt, die man Frostsplitterer nannte. Terve wickelte selbst die kleinsten Stückchen in gegerbte Seevogelhaut und legte sie ehrfürchtig in den Korb, den sie aus Walroßdarm geflochten hatte.
Irgendwann meldete sich Terve natürlich doch wieder. »Warum heißt es beim Volk Splittererfels, Haudo? Wer war Splitterer? Außerdem ist es Eis, kein Fels.«
Haudo grinste angesichts der Kürze von Terves selbstauferlegtem Schweigen, doch er antwortete freundlich. Haudo stammte aus dem Clan der Erzähler, so daß es seine Aufgabe war, die vielen tausend Geschichten auswendig zu lernen, aus denen die mündlich überlieferte Geschichte des Eisvolks bestand. Wenn er jetzt die Geschichte von Splitterer erzählte, war das eine gute Gelegenheit zu üben, auch wenn die kleine Terve sie bestimmt schon unzählige Male gehört hatte. Und eine Geschichte war auch ein guter Zeitvertreib.
Er blähte die Brust, holte die Luft, imitierte die Erzählerpose seines Vaters und begann mit dem Ritual seines Clans: »Die Alten sagen, von der Spitze des Splittererfelsens könne Das Volk bis zum Rande der Welt sehen. Und alles, was wir sehen, gehört uns und wird nur mit dem Eisbären geteilt. So war es immer, und so wird es immer sein. Das sagen die Alten.«
»Also, dann los, Haudo!« quietschte Terve. »Klettern wir auf die Spitze!«
Haudo sah sie wütend an. »Es gehört sich nicht, zu unterbrechen, wenn eine Geschichte vom Ursprung erzählt wird«, erinnerte er sie hochmütig. Terve wurde still. »Außerdem«, fügte er schlechtgelaunt hinzu, »ist noch nie jemand auf der Spitze des Splittererfelses gewesen. Er ist zu rutschig.«
Terve wollte etwas sagen, machte aber nach einem bösen Blick von ihrem Bruder den Mund wieder zu. Scheinbar gleichmütig holte sie ein Stück frischen, rohen Fisch aus einem Päckchen und aß es. Haudo nahm den Faden wieder auf.
»Vor vielen, vielen Wintern hat der große Eisbär, der das Land Des Volks geschaffen hat, hier, an dieser Stelle ein heiliges Geschenk hingesetzt, einen fruchtbaren Ort.« Diese letzten Worte wiederholte Haudo. Sie klangen so erwachsen. »Ein heiliges Geschenk, einen fruchtbaren Ort. Einen Ort, der das Geschenk des Eisbären, das Splitterereis, enthalten würde, das feste Eis, aus dem Die Menschen unter vielen Gebeten und Gesang den Frostsplitterer herstellen würden. Der Frostsplitterer, der von den Feinden Des Volks gefürchtet wird, ist das Geschenk des Eisbären.«
»Das sagst du, Haudo.« Terve runzelte die fettbeschmierte Stirn.
Haudo schloß die Augen und holte langsam Luft. Als er wieder ausgeatmet hatte, war er äußerlich gelassen. »Jahrhundertelang ist Das Volk zu geheimen Orten am Gletscher von Eismauer gezogen, um dort das Eis zu holen, um ihren Stämmen das Material zu bringen, aus dem nur die Verehrten Kleriker der Stämme Frostsplitterer machen konnten. Das ist so schwierig, daß die Herstellung einer einzigen solchen Waffe einen ganzen Monat beansprucht.«
»Das weiß ich, Bruder«, murmelte Terve.
»Der Frostsplitterer ist das Geschenk des Eisbären«, wiederholte er noch einmal, nur um sie zu ärgern. »Der Frostsplitterer ist die einzige Waffe, die die Stiermenschen und die Thanoi, die Feinde Der Menschen, vertreibt.«
Terve sah sich um und erschauerte. Die Erwähnung der Walroßmenschen und der Minotauren, die gelegentlich in das Eisreich einfielen, um Sklaven und Robbenfelle zu erbeuten, ließ sie etwas näher an ihren großen Bruder heranrücken. Haudo tat so, als ob er es nicht bemerkte. Er erzählte weiter vom Eisbären, den Splitterern und der Schuld des Eisvolks gegenüber dem Eisbären. Niemand aus dem Eisvolk würde einen Eisbären töten; wer das tat – selbst wenn es ohne Absicht geschah –, schuldete dem Geist des Bären sieben Tage des Fastens und des Gebets und viele Geschenke.
»Haudo.« Diesmal meldete Terve sich leise. »Terve«, klagte er, »ich versuche – «
»Haudo, Das Volk braucht doch kein großes Feuer, um Seile zu machen, oder?«
»Was?« Ohne sich zu bewegen, registrierte Haudo die wachsende Furcht in den Augen seiner Schwester. Dann wandte er sein Gesicht in den Wind. Dort hinten im Süden waren noch vor kurzem nur dünne Rauchsäulen von den Feuern seines Volks aufgestiegen.
Jetzt war die Luft schwarz vor Rauch. Noch auf diese Entfernung konnte Haudo brennende Pelze und Häute riechen. Er hätte sogar schwören können, daß er Schreie hörte, aber das war unmöglich.
»Haudo?« Terve stand plötzlich dicht neben ihm. Er legte seiner kleinen Schwester den Arm um die Schultern. Sie ist zu jung, um ihre Mutter zu verlieren, dachte er. »Wir müssen zum Eisboot, Terve.«
»Was ist denn passiert?« Terve war den Tränen nahe, doch ein Kind Des Volks weinte nicht so leicht. Immer noch umklammerte sie den Korb mit den Splittererscherben.
»Wir werden sehen, Kleine Schwester.« Er stellte das Boot auf, half Terve hinein und setzte das Segel. Bald rannte er nebenher, um es auf den festen Schnee zu lenken und dann hineinzuspringen, als der Wind das Segel blähte. Schweigend sausten sie auf das rauchende Dorf zu.
Dann bremste Haudo das Eisboot und versteckte es hinter einem Hügel aus aufgetürmtem Schnee. Das Dorf war nicht mehr weit entfernt. »Bleib hier«, befahl er Terve.
Der Zwölfjährige schlich hinter dem Schneeberg entlang, wobei er sich alles ins Gedächtnis rief, was sein Vater ihm je über die Pirsch gesagt hatte: Vertraue deiner Nase und benutze deine Ohren. Sie werden dir genausoviel verraten wie deine Augen. Noch bevor er den Kopf über den Schneeberg erhob, roch er den stechenden Geruch der Minotauren. Er nahm auch den tranigen Fischgestank der Thanoi wahr, der Walroßmenschen, die entgegen jahrtausendealter Legenden behaupteten, das Eisreich würde ihnen gehören, nicht Dem Volk. Und Haudo roch noch etwas anderes – einen unangenehmen Geruch von Abfall und faulem Fleisch. Da warf er einen Blick auf sein Dorf, obwohl er in dem dichten Rauch fast gehustet hätte. Ihm stockte der Atem. »Zweiköpfige Untiere!« flüsterte er.
Er wollte zurückspringen, um den Anblick nicht sehen zu müssen, der sich ihm für immer ins Gedächtnis einprägen würde. Seine Verwandten, seine Freunde lagen verrenkt und tot im blutgetränkten Schnee. Minotauren, Walroßmänner und die zweiköpfigen Monster schleppten einen Körper nach dem anderen aus den Eisblockhütten und den Zelten aus Häuten. Einige Körper zuckten noch. Ein alter Mann stöhnte, doch gleich eilte eines der zweiköpfigen Ungetüme herbei und schlug ihm mit einer Dornenkeule den Kopf ein.
Angeführt wurde der Überfall von einem Mann in einer Robe, dessen Silhouette am Südhimmel zu sehen war.
Leiser, als er je eine Robbe oder ein Walroß gejagt hatte, eilte Haudo durch den Schatten hinter dem Schneeberg zu Terve und dem Eisboot. Das kleine Mädchen hatte dieses eine Mal gehorcht. Es kauerte im Boot. Haudo sagte nur: »Wir müssen fort, Kleine Schwester.« Sie nickte stumm.
Bald jagte das Eisboot über den Schnee zum Dorf ihrer Verwandten, das mehrere Tagesreisen nordwestlich lag.
Kai-lid schreckte aus dem Schlaf hoch. Der Halbelf, der Wache hatte, sah zu ihr hin, sagte jedoch nichts. Caven, Kitiara und Wod lagen in Decken gewickelt ums Feuer. Xanthar hockte wachsam über ihnen. Die Augen der Untoten beobachteten sie immer noch aus der Finsternis.
Die Zauberin sandte ihre Gedanken aus. Xanthar?
Ich habe es auch gesehen, Kai-lid. Die Verwüstung des Eisvolkdorfes.
Es war also kein Traum?