Damit war er verschwunden. Kitiara hörte, wie die Schritte der beiden im Gang oben verhallten.
16
Die Staubebenen
»Xanthar, wo sind wir?« Als der Riesenvogel nicht antwortete, beugte sich Tanis über den vorderen Rand des Flügels und rief seine Frage noch einmal.
Die Eule drehte sich erschrocken um. Die Federn um Xanthars Augen waren völlig verklebt. Seine Nachtaugen hatten die ganze Woche, die sie jetzt schon gen Süden flogen, getränt.
Die beiden hatten das Kharolisgebirge längst hinter sich gelassen. Am Vortag hatten sie eine endlose Einöde erreicht, wo es über weite Strecken nichts als nackte Steine gab. Aber jetzt glitzerte tief unter der Eule und dem Halbelfen weizenheller Sand, der vor Hitze in der prallen Sonne zu verschwimmen schien. Der Wind ließ offenbar niemals nach. Gelegentlich erhoben sich tanzende Staubsäulen, die dann unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrachen.
Wir sind…
Tanis wartete, aber der Vogel redete nicht weiter. »Wo sind wir?« schrie er schließlich noch einmal.
Im Süden. Weit im Süden. Über den Staubebenen, westlich von Tarsis oder vielleicht südwestlich von Tarsis. Ich weiß es nicht genau, Kai-lid.
»Ich bin Tanis.«
Ah. Natürlich. Tanthalas. Der Halbelf.
Tanis ließ seinen Blick über das Gelände wandern. Sand und Staub erstreckten sich bis zum Horizont.
»Was war diese Wüste früher mal?« wollte Tanis wissen.
Ein Ozean, glaube ich – bis die Umwälzung das Antlitz der Welt verändert hat. Als die Götter Krynn bestraften, wurden einige Teile von Ansalon überflutet. Hier ist die See trockengefallen und hat nur Sand zurückgelassen. Sagte jedenfalls mein Großvater.
Und wo war Caven? Anfangs hatte der Halbelf den Reiter gelegentlich ausmachen können, der Malefiz genauso unbarmherzig anzutreiben schien, wie Xanthar sich selbst forderte. Aber seit zwei Tagen hatte Tanis nichts mehr von Caven Mackid gesehen.
Nach all den Meilen hoch über der Erde, in denen er nur mit dem notdürftigen Lederharnisch an der Eule festhing, hatte Tanis seine Flugangst überwunden. Xanthar war ein ausdauernder Flieger. Seitdem sie den Düsterwald verlassen hatten, hatte die Eule nur kurze Pausen eingelegt, in denen der Halbelf Hasen oder Rebhühner gebraten, seinen Wasservorrat aufgefüllt und seine Notdurft verrichtet hatte. Tanis konnte beim Fliegen auf Xanthars Rücken schlafen, aber so weit der Halbelf das beurteilen konnte, schlief die Rieseneule nur während der kurzen Rastpausen am Boden.
Kai-lid.
»Ich bin Tanis«, wiederholte der Halbelf.
Benommen schüttelte die Eule den Kopf. Sie machte die Augen so weit wie möglich auf, und als sie den Kopf drehte, konnte Tanis sehen, daß die Iris ihrer Augen eine matte, dumpfbraune Farbe angenommen hatte. Die Pupillen reagierten nicht mehr auf den Wechsel von Licht und Schatten.
»Xanthar, wie geht es deinen Augen?«
Manchmal wird das Licht trüb. Das geht aber vorbei. Ich bin so helles Tageslicht nicht gewöhnt. Wieder quoll ein dicker, gelber Tropfen aus dem Auge des Vogels.
»Wir sollten anhalten, damit du dich ausruhen kannst.«
Nein.
»Wir sollten auf Caven warten.«
Caven wird den Weg finden. Meine Verwandten haben ihn bis ans südlichste Ende des Düsterwalds begleitet. Danach konnte er sich nach der Sonne und den Sternen richten. Er weiß, daß er genau nach Süden muß, soweit diese Wanderdünen das zulassen.
»Kannst du ihn mit deinen Gedanken erreichen?«
Er ist zu weit weg und beherrscht die Telepathie nicht. Ich kann nicht einmal Kai-lid erreichen, obwohl sie gut ausgebildet ist – von einem Meister.
»Glaubst du, ihr und Kitiara geht es gut?« Die Eule antwortete nicht, doch ihre Muskeln spannten sich an. »Xanthar?«
Da links. Siehst du etwas? Ich spüre eine Veränderung, aber ich kann nicht so weit sehen.
Tanis blickte in die angegebene Richtung. »Das ist nur eine kleine Wolke, Xanthar.«
Nein. Mehr als das.
»Was denn? Magie?«
Keine Magie. Ein Sturm. Wir müssen Schutz suchen.
»Aber…« Dem Halbelf verschlug es die Sprache, als Xanthar ohne Vorwarnung die Flügel anlegte und auf die Erde zuschoß.
Jetzt mußt du meine Augen ersetzen, Halbelf. Tanis merkte, wie er auf der nach unten rasenden Eule zurückrutschte. Als er das Ende des Harnischs erreicht hatte, flog sein Kopf von der Wucht des Sturzflugs nach hinten. »Xanthar! Wieder hoch!« Augenblicklich ging die Eule in Gleitflug – nur wenige Fuß über dem Boden – und flog im Zickzack über das Gelände.
Such Schutz für uns.
Hier unten konnte man mehr erkennen. Dieser Teil der Ebene bestand, aus der Nähe betrachtet, aus Sand und bizarren, feuerfarbenen Sandsteinformationen, in die Tiere ihre Höhlen gegraben hatten. Die Höhlen waren jedoch zu schmal, um einen Halbelfen und eine fast doppelt so große Eule aufzunehmen.
Such weiter.
Tanis hinterfragte die Weisheit des Vogels nicht mehr, denn die kleine Wolke blähte sich zu einer dunkelblauen bis erbsengrünen Decke aus. Darin zuckten Blitze, während die Wolke auf sie zuraste. Unter der Wolkenbank hing ein Vorhang aus peitschendem, vanillefarbenem Sand. Tanis zog ein Tuch aus dem Gepäck auf dem Rücken des Vogels und band es sich vor Mund und Nase. Der erste Windstoß voll Staub traf sie von der Seite. Die Körner stachen wie Nadeln. Xanthar konnte sich nur mühsam in der Luft halten. Mehr als einmal streiften seine Flügelspitzen den Boden, worauf der Halbelf erst nach einer Seite, dann nach der anderen kippte. Tanis blinzelte in die Staubwolke. Die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Xanthar hatte seine Augen fest geschlossen, doch er flog tapfer weiter.
»Da!« Der Halbelf warf sich mit beiden Händen nach vorn, umfaßte die Seiten von Xanthars Kopf und wies ihm den Weg zu einer Höhle, die jetzt nicht mehr zu sehen war, dann aber wie ein Schatten durch den tobenden Sandsturm wieder auftauchte und abermals verschwand. »Schau!«
Wo? Ich sehe nichts…
Genau vor ihnen öffnete sich die Höhle. Tanis warf sich auf die Federn des Vogels und machte die Augen zu. Er fühlte, wie der Vogel aus dem blendenden Sandsturm in kühle, stille Dunkelheit kam. Nach einigem Schlittern prallte der Vogel gegen eine Wand. Tanis machte den Harnisch los und rutschte von Xanthars Rücken. Er sah sich um, um mit seinen Elfenaugen in der Dunkelheit nach Wärme zu suchen. Die Höhle schien nichts Lebendiges außer dem Halbelfen und der Eule zu beherbergen.
Draußen tobte der Sturm, und das stundenlang. Xanthar lief rastlos auf und ab. Als die Stimme der Eule schließlich in die Gedanken des Halbelfen eindrang, wurde der Grund für ihre Nervosität klar.
Ich muß Hilfe holen, Kai-lid. Tanis widersprach der Eule nicht. Ich dachte, meine Kraft würde ausreichen, aber du hattest recht, Kai-lid. Ich hätte nicht so weit fortgehen dürfen.
»Ausreichen?«
Die Stimme des Halbelfen schien die Eule in die Wirklichkeit zurückzureißen. Gegen Kai-lids Feinde, Tanis. Aber meine Kräfte nehmen rapide ab. Du wirst Hilfe brauchen, und der Kerner wird nicht reichen. Vielleicht ist er sogar schon verloren.
»Kitiara wird helfen. Und Lida – Kai-lid.«
Und wenn sie tot sind?
Tanis lehnte sich zu der Eule hinüber. Sanft legte er dem Vogel die Hand auf den Flügel. »Du hast gesagt, du würdest es wissen, wenn die Zauberin tot ist.«
Ich bin mir in nichts mehr sicher. Vielleicht habe ich meine Fähigkeiten überschätzt. Demut war noch nie meine Stärke. Ich fürchte…