Kai-lid, die sich auf dem Boden ihres Eisverlieses zusammengerollt hatte, hob den Kopf und stieß ihre Decke zurück. Ihr war schwindelig zumute. Seit Tagen hatte sie nichts mehr gegessen, obwohl der Ettin seit einiger Zeit – nämlich seit er Kitiara aus dem Gefängnis gezerrt hatte – regelmäßig auftauchte, um einen Eimer Wasser hinunterzulassen. Die Kriegerin war nicht zurückgekommen, und der Ettin antwortete nicht, wenn Kai-lid ihn bedrängte, zu sagen, ob Kitiara in Sicherheit war. Mehrmals war Janusz selbst erschienen und hatte das Angebot wiederholt, das er ihr im Lager des Valdans gemacht hatte: daß sie sich ihm anschließen könnte, um bei ihm besser zaubern zu lernen. Schließlich war er vor Jahren Lida und Dreenas Lehrer gewesen, als diese noch junge Mädchen gewesen waren. Er hatte hinzugefügt, daß sie selbstverständlich die schwarzen Roben anlegen und seine Geliebte werden müßte. Jedesmal drehte Kai-lid den Kopf weg, und wenn sie wieder hochschaute, war Janusz verschwunden, doch sein Duft nach Staub und Gewürzen hing noch in der Luft. Angesichts der überlegenen Macht ihres Gegners waren ihre Zauberkünste nutzlos.
Aber eben hatte sie doch wirklich einen Ruf gehört. Halluzinierte sie womöglich schon vor Hunger?
Kai-lid Entenaka. Kannst du mich hören? Gib acht, ich spüre jemanden, der beobachtet. Sprich nicht laut.
Kai-lids Zittern fiel von ihr ab wie die abgelegte Haut einer Schlange. Sie zwang sich, sich zu konzentrieren, in sich hineinzuschauen und im kalten Licht der Wände äußerlich ruhig zu wirken, doch ihr Herz machte einen Sprung.
Xanthar, bist du das?
Pause. Kennst du noch jemanden, mit dem du dich auf diese Weise unterhältst?
Die Zauberin hätte vor Erleichterung fast laut geschluchzt. Sie verbarg ihre Gefühle, indem sie aufstand und zu dem Wassereimer unter dem Tor ging. Sie füllte die Kelle und nahm einen tiefen Schluck, konzentrierte sich jedoch die ganze Zeit auf ihre telepathischen Worte.
Xanthar, mein Vater hat das Eisvolk versklavt. Kitiara ist schon seit Tagen verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie tot oder lebendig ist. Ich fürchte, sie macht gemeinsame Sache mit ihm. Ich bin seine Gefangene, tief in einer Eisspalte. Sie setzte sich hin, nahm ihren Mantel und deckte sich damit zu. Sie gab sich den Anschein, als würde sie dösen, doch im Geiste beschrieb sie ihre Fahrt mit dem Schreckenswolfsschlitten durch das Eisreich. Bist du in der Nähe, Xanthar?
Wir haben gerade das Eisreich erreicht, meine Kleine. Ich habe meine Söhne und Töchter und deren Söhne und Töchter und ein paar hundert Vettern mitgebracht.
Noch jemand? Sie ließ die Kapuze des Mantels über ihr Gesicht gleiten, um ihre Mimik zu verbergen.
Den Halbelfen und den Kerner. Sie werden bald da sein.
Sie? Nicht auch du?
Eine lange Pause schloß sich an, bis Kai-lid merkte, wie sich Angst in ihr regte. Xanthar, bist du krank? Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst nicht so weit…
Mach dich nicht lächerlich. Selbst telepathisch war der Ton der Rieseneule schroff. Natürlich komme ich. Und du mußt dich darauf vorbereiten, uns zu helfen.
Ich bin hilflos! Sie erzählte, wie die Umgebung aussah und welches Angebot ihr Janusz gemacht hatte. Er – er fühlt sich verantwortlich für meinen Tod – das heißt, für Dreenas Tod. Xanthar, Janusz sagt, er haßt Kitiara, weil sie ihm die Eisjuwelen gestohlen hat, aber auch, weil er ihr die Schuld an Dreenas Tod gibt. Er sagt, er hätte Dreena geliebt. Ich schwöre, das habe ich nie gewußt, Xanthar. Er hat uns beide die Magie gelehrt, Lida und mich. Er sagt, die Liebe von Dreenas Zofe würde ihn an die glücklichen Zeiten der Vergangenheit erinnern.
Die Eule dachte lange nach, bevor sie antwortete. Du mußt Zeit gewinnen, und du mußt aus diesem Kerker raus, damit du wieder zu Kräften kommst. Füge dich dem Magier, Kai-lid.
Mich fügen? Kai-lid konnte ihren Abscheu nicht verbergen. Lieber sterbe ich.
Das ist dann deine Entscheidung, Kai-lid. Aber dein Stolz ist selbstsüchtig. Wir brauchen dich. Du mußt herausfinden, was der Zauberer über die Eisjuwelen in Erfahrung gebracht hat. Wenn du seine Zudringlichkeiten ertragen mußt, um das zu tun, dann muß es eben so sein. Tut mir leid. Aber Janusz will…
Plötzlich nahm sie über die telepathische Verbindung den Schmerz der Eule wahr. Sie legte ihn als Mitgefühl für sich aus, und Xanthar korrigierte sie nicht. Sag, daß du krank bist, Kai-lid, krank vom Hungern. Halt den Zauberer hin, so gut du nur kannst. Wir brauchen einen oder zwei Tage, um das Eisvolk zu finden und einen Angriff zu planen. Ein Unterton gezwungener Fröhlichkeit schlich sich in seine Worte. Ich weiß, du bist absolut unglaubhaft, wenn du lügst, Kai-lid, aber er muß dir glauben, also gib dir größte Mühe, so zu tun, als wärst du mit allem einverstanden.
Aufgewühlt setzte die Zauberin sich hin. Sie streichelte das Seehundsfell an den Ärmeln ihres Mantels. Schließlich nickte sie, ohne daran zu denken, daß die Eule sie nicht sehen konnte.
Kai-lid?
Ich versuche es, Xanthar.
Dann… Die Verbindung wurde schwächer, und Kai-lid spürte, daß die Eule mit den Worten rang. Leb wohl, sagte Xanthar schließlich einfach.
Bis dann, fügte sie hinzu.
Natürlich, sagte Xanthar schroff nach einer weiteren Pause. Bis dann, meine Süße.
Dann riß die Verbindung ab. Kai-lid wartete eine Weile, weil sie sich fragte, ob die Rieseneule wirklich verschwunden war. Dann erhob sie die Stimme und rief den Wänden zu: »Janusz, bist du da? Ich habe mich entschieden.«
Bereits Augenblicke später stand der Magier am Portal und starrte mit hoffnungsvollen Augen auf sie herab. Sie taumelte absichtlich, als sie zu ihm hochblickte. »Ich halte den Hunger nicht mehr aus, Janusz. Ich bin krank. Ich werde… ich werde tun, was du willst, aber ich brauche Zeit, gesund zu werden.«
Als der Zauberer sie betrachtete, fühlte Kai-lid, wie ihr die Angst über den Rücken lief. Der Magier hätte sie beobachtet, hatte Xanthar gesagt. Ob Janusz wußte, daß sie gedanklich gesprochen hatte? Er hatte nie angedeutet, ob Telepathie zu seinen Künsten zählte. Sie zwang sich zu einem nichtssagenden Gesichtsausdruck, doch ihre Hände zitterten. Um ihre Panik zu vertuschen, spielte sie mit den Beuteln an ihrem Gürtel, in denen sich magische Mittel befanden.
Doch Janusz’ nächste Worte waren freundlich. »Sehr schön«, sagte er. Er ließ das Seil hinunter. »Komm hoch.«
Sie versuchte es, aber ihr Mantel und die Angst, das klebrige Eis zu berühren, behinderten sie. Schließlich sagte Janusz einen Spruch und kam zu ihr heruntergeschwebt. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und sagte einen zweiten Spruch. Anmutig stiegen sie in der Luft auf, kamen auf gleiche Höhe mit dem Portal und trieben hindurch. Als ihre Füße den Boden berührten, half Janusz ihr die langen Gänge bis zu seinen Räumen entlang. Sie zwang sich, bei ihm Halt zu suchen.
Xanthar hätte das Eisvolkdorf fast übersehen. Die Eingeborenen bedeckten ihre Häuser mit weißen Pelzen und Schnee, so daß die Siedlung perfekt mit dem umliegenden Gletscher verschmolz. Xanthar war inzwischen nahezu blind, und die anderen Eulen, deren Augen ebenfalls für die nächtliche Jagd gedacht waren, hatten die gleichen Schwierigkeiten mit dem gleißenden Licht. Es war Tanis, der den Rauchfaden entdeckte, der aus einer der Behausungen aufstieg. Auf seinen Ruf hin ging Xanthar nach unten, gefolgt von Tanis’ Eule, welcher der Halbelf den Spitznamen Goldener Flügel gegeben hatte. Danach kam Cavens Eule, der Tanis wegen ihres Flecks auf der Stirn den Namen Klecks verpaßt hatte.