Anstatt im Dorf zu landen, bog Xanthar im letzten Moment nach Süden ab, wo er die Gruppe auf einer freien Fläche ganz in der Nähe herunterführte. Das Feld lag außerhalb der Mauer aus gewaltigen, übermannshohen Rippenknochen, die das Dorf begrenzte. Schweigend landete der Rest der Eulenstreitmacht. Wieder einmal staunte Tanis über die Disziplin, die diese Vögel zeigten. Sie konnten geräuschlos fliegen, wie gerade eben, oder – durch eine leichte Änderung in der Federstellung – mit dem durchdringenden Schlag dahinbrausen, der ihn zuvor so verstört hatte.
Zunächst geschah gar nichts. Tanis machte Caven los, der wieder zu sich kam, um sich gleich über die Kälte und heftige Kopfschmerzen zu beklagen. Mit einem wütenden Blick brachte Tanis ihn zum Schweigen. Beide Männer waren nicht für den beißenden Wind angezogen, der ungehindert durch ihre Kleider pfiff.
Dann erschien durch eine Öffnung im Rippenzaun eine einzelne, in Pelze gehüllte Gestalt. Die Gestalt trug einen Speer und eine glänzende Waffe, die wie eine Axt aus Eis aussah. Bald schlossen sich der ersten Gestalt ein Dutzend weitere an, die ähnlich gekleidet und bewaffnet waren. Auf ein Kommando hin kamen alle gleichzeitig auf die Rieseneulen zu. Tanis rutschte von Goldener Flügel und trat vor. Caven glitt von Klecks und hielt sich kurz an der Eule fest, um dann mit unsicheren Schritten dem Halbelfen nachzueilen. Xanthar, der die anderen Eulen um einen Kopf überragte und trotz seines Leidens imponierend wirkte, schlurfte ebenfalls vor. Tanis zog sein Schwert nicht, und als Caven seine Waffe aus der Scheide ziehen wollte, hielt ihn der Halbelf mit einer Geste davon ab.
Die beiden Gruppen, eine mit erhobenen Waffen, die andere mit bloßen Händen, beobachteten einander schweigend. Dann gab einer aus dem Eisvolk, ein mittelgroßer Mann mit dunklem, scharfgeschnittenem Gesicht, seinen Speer einem seiner Begleiter und klappte mit der freien Hand seine Kapuze zurück. Er hatte dunkelbraune Haare, und sein Gesicht war mit Fett beschmiert – zum Schutz vor Wind und Kälte, wie Tanis erriet. Den Eulen schien die Kälte nichts auszumachen, er und Caven hingegen zitterten.
»Sprecht ihr Gemeinsprache?« fragte der Mann.
»Er und ich schon.« Tanis zeigte auf Caven Mackid und stellte den Kerner, dann Xanthar, Goldener Flügel und Klecks und schließlich sich selbst vor. Die Rieseneulen rissen die Augen auf, als der Halbelf ihre neuen, menschlichen Namen erwähnte, und Xanthar rieb mit einer Klaue seinen Schnabel. Tanis war schon lange klargeworden, daß diese Geste bei ihm bedeutete, daß er grinste. Goldener Flügel und Klecks zwinkerten sich nur zu.
»Ich bin Brittain vom Clan des Weißen Bären. Das hier ist mein Dorf. Was wollt ihr hier?« fragte der Anführer.
Tanis, der die förmlichen Begrüßungsrituale der Qualinesti kannte, imitierte den zeremoniellen Tonfall des Eisvolkführers. »Wir sind gekommen, um zwei Freunde zu retten, die von einem bösen Mann entführt und ins Eisreich gebracht wurden. Wir fürchten um ihr Leben – und das Leben des Eisvolks –, wenn niemand diesen bösen Mann aufhält.«
Unter seinen Männern gab es Gemurmel, doch der Anführer rührte sich nicht. Der Wind fuhr in den weißen Pelz, mit dem der Rand seiner Kapuze besetzt war. Sein Blick ging von dem Halbelfen zu dem Kerner, dann zu den Eulen. »Ich glaube, du lügst. Ich glaube, du bist ein Abgesandter jenes Bösen, von dem wir schon viel gehört haben. Ich glaube, du und deine Freunde, ihr wollt ein weiteres Dorf Des Volks ausspähen, damit ihr dieses Wissen dann dem Bösen und seinen Horden von Stiermenschen, Walroßmenschen und doppelköpfigen Sklaven überbringen könnt.« Brittain schaute finster drein. »Ihr seid unsere Gefangenen.« Auf einen Wink von ihm traten mehrere bewaffnete Eisvolkmänner vor und ergriffen Tanis und Caven an den Armen.
»Wehr dich nicht«, flüsterte Tanis Caven zu. »Wir müssen sie überzeugen, daß wir ihnen nichts tun wollen. Wir haben keine Zeit, noch einen Kampf auszufechten.«
Zornig stellte Caven seinen Fuß in den Schnee. »Ich bin ein Mann, Halbelf. Ich lasse mich nicht kampflos abführen!«
Tanis seufzte. Einen Augenblick traf sich sein Blick mit dem von Brittain. Zu seinem Erstaunen funkelte Belustigung in den braunen Augen des Anführers. Allerdings war dieser Anflug guten Willens – falls er sich das nicht nur eingebildet hatte – genauso schnell verflogen, wie er gekommen war.
In diesem Augenblick traten Xanthar, Goldener Flügel und Klecks vor. Xanthar hob den Kopf und trillerte, worauf die Rieseneulen auf dem Feld hinter ihnen sich umdrehten und zu Reihen antraten. Xanthar, Goldener Flügel und Klecks beugten sich vor und pickten die Hände der Eisvolkhäscher von den Armen des Halbelfen und des Kerners.
Brittain gab seinen Leuten ein Zeichen. »Diese großen Vögel sind nicht aus dem Eisreich…«, sagte er zögernd.
»Sie stammen aus dem Norden, wie wir. Sie wollen nur Gutes, so wie wir.«
Endlich lächelte Brittain. »Das werden wir ja sehen.«
»Sie kommen auf Geheiß von Xanthar, ihrem Ältesten und Anführer, und folgen nicht dem Ruf des Bösen.«
Brittains Lächeln wurde breiter. »Wir werden sehen«, wiederholte er. »Ihr seid nicht gerade für das Eisreich ausgerüstet. Stimmt, der Böse wäre schlauer gewesen.«
Xanthar trillerte wieder, und Tanis, der sich zu dem Vogel umdrehte, spürte etwas Vertrautes in seinem Kopf. Konnte der Vogel immer noch telepathisch reden? War er stark genug? Auch auf Cavens Gesicht zeichnete sich Überraschung ab. Selbst Brittain schien eine Botschaft zu empfangen.
»Großvater Eule«, murmelte Brittain respektvoll. »Das Volk achtet das Alter, und du scheinst sehr weise zu sein.«
Xanthars Augen waren geschlossen. Seine Klauen umklammerten den Schnee so fest, daß er zu schmelzen begann. Er konzentrierte sich mit allen ihm verbliebenen Kräften, das konnte Tanis sehen. Wieder flackerte Telepathie in den Gedanken des Halbelfen auf.
Drei… drei…
Er wurde schwächer, sprach jedoch wieder. Xanthar taumelte vor Anstrengung, als Goldener Flügel und Klecks an seine Seite eilten.
Drei Liebende,… die… Zaubermaid… Erschauernd holte Xanthar Luft und lehnte sich an die zwei Eulen.
»Tanis!« zischte Caven. »Der Traum! Was macht er?« Geflügelter mit treuer Seele, fuhr die Eule fort. Er öffnete seine schmerzgepeinigten Augen für einen Moment. Das bin ich, Halbelf.
Auch Tanis rezitierte jetzt. »Untote drohen im Düsterwald, Sichtbar in der Spiegelschale. Böses befreit durch des Diamanten Flug.«
Bei der zweiten Strophe stimmte Caven mit ein. Zu Tanis’ Überraschung schloß sich Brittain bei der dritten an.
Die letzte Silbe verklang, und das Kitzeln in Tanis’ Gehirn hörte auf. Xanthar taumelte wieder gegen Goldener Flügel. Dann seufzte er und sank in den Schnee. Noch ehe Tanis und Caven bei ihr waren, war die Rieseneule tot.
Ein verzweifelter Schrei erhob sich aus den Kehlen von Goldener Flügel, Klecks und den anderen Eulen. Caven fluchte deftig. Tanis schwieg. Die Tränen stiegen ihm in die Augen, während hinter ihm Hunderte von Eulen trillerten und heulten. Er spürte eine Hand auf der Schulter, die er abschüttelte, weil er glaubte, sie käme von Caven, doch die Hand kehrte zurück, und Tanis sah auf. Es war Brittain.
»Auch ich hatte einen Traum«, flüsterte der Eisvolkführer, »vor vielen, vielen Wochen, bevor der Böse das erste Dorf zerstörte. Der Verehrte Kleriker sagte, der Traum, der uns warnen sollte, käme vom großen Eisbären. Seitdem hat der Böse viele aus unserem Volk geholt.« Seine braunen Augen musterten Tanis einen Augenblick. Dann verstärkte sich sein Druck auf Tanis’ Arm. »Du weinst echte Tränen um deinen Freund. Ich glaube dir.«