Brittain bellte Befehle, woraufhin seine Gefolgsleute hinliefen, um Xanthars Körper aufzuheben. Tanis und Caven ließen die trauernden Eulen auf der eisigen Ebene zurück und begleiteten die Menschen vom Eisvolk in ihr Dorf.
Männer und Frauen eilten von allen Seiten herbei, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Brittains Frau Feledaal gab ein paar Frauen und Kindern Anweisungen, einen Bottich Fischsuppe zuzubereiten.
»Macht alles fertig, um einen großen Krieger beizusetzen«, befahl Brittain einem Mann in einer Robe, die mit Steinperlen und Vogelknochen geschmückt war. »Unser Verehrter Kleriker«, bedeutete Brittain ihnen respektvoll, nachdem der Mann sich verneigt und mit klickernden Perlen davongeeilt war. »Er deutet unsere Träume und stellt unsere Eissplitterer her. Obwohl ich der Herr über unser Leben auf dem Gletscher bin und der Verehrte Kleriker so tut, als ob er meinen Befehlen Folge leistet, herrscht er über alles Spirituelle. Deshalb glaube ich manchmal, daß unser Verehrter Kleriker in Wahrheit mehr Macht besitzt als ich.«
Tanis und Caven wurden eilends mit Kleidern für ein Gletscherklima ausgerüstet – sie bekamen Pelzmäntel, pelzgefütterte Robbenfellstiefel, die mit Walroßöl eingerieben waren, und dicke Mützen. Die Reisenden erhielten auch einen Lederstreifen, in den Schlitze geschnitten waren, und Brittain zeigte Tanis, wie er die Schlitze vor die Augen legen und die Enden dann hinter dem Kopf zusammenbinden mußte. »Um einen in den hellsten Stunden des Tages vor Schneeblindheit zu schützen«, erläuterte Brittain.
Der Anführer kündigte Tanis an, er würde ihm das Dorf zeigen. Caven hingegen überraschte die beiden, indem er ein paar der Dorfkrieger um sich versammelte und wieder zu der Ebene südlich vom Dorf lief. »Ich will diesen an Ansalon klebenden Hinterwäldlern mal zeigen, wie geübte Soldaten fliegen können«, erklärte er wacker, während er sich den Lederstreifen um den Kopf band.
Brittain zeigte auf das größte Gebäude des Dorfes, ein Haus aus Schnee- und Eisblöcken, das mit weißem Pelz und Schnee bedeckt war. »Dort versammeln wir uns und sprechen über die Zukunft Des Volks«, sagte Brittain. Er winkte zwei Kindern, die an der Seite des Gebäudes lehnten und mit ernsten Augen beobachteten, was vor sich ging. Die übrigen Eisvolkkinder hatten lange Haare, doch diesen beiden hatte man die braunen Locken bis dicht unter die Ohren abgeschnitten. Keines von ihnen lächelte. Auf Brittains Wink hin kamen sie rasch herüber, ohne dabei den Halbelfen aus den Augen zu lassen.
»Bitte vergib ihnen ihr Starren. Wir haben von dem Volk mit den spitzen Ohren gehört, welches im Norden lebt, aber wir haben noch nie einen von ihnen in unserem Dorf gesehen. – Terve, Haudo«, sagte er mit freundlicher Stimme, »das ist Tanis, der Halbelf. Er ist gekommen, um uns zu helfen, gegen den Bösen zu kämpfen.« Der Junge nickte, das Mädchen zeigte keine Regung. Brittain schickte sie fort, um bei den Essensvorbereitungen zu helfen.
»Sie sind in Trauer, wie man sieht«, erklärte er, sobald die Kinder außer Hörweite waren. »Von ihnen haben wir die erste Nachricht von den Raubzügen des Bösen erhalten. Ihre Eltern wurden ermordet, genau wie die anderen Bewohner ihres Dorfes.«
Tanis sah sich nach den Kindern um, doch sie waren in eine Hütte geschlüpft. »Was wißt ihr über die Größe und Stärke der Truppen des Valdans?« fragte er. Nach einem fragenden Blick von Brittain erklärte er, daß er den »Bösen« unter dem Namen Valdan kannte.
Brittain wich aus, um zwei Frauen Platz zu machen, die einen toten Seehund trugen. »Für die Abendsuppe«, sagte Brittain. Dann kam er auf Tanis’ Frage zurück. »Wir hören Berichte von Angehörigen unseres Volkes, die beim Angriff auf ihre Dörfer entkommen konnten, und von solchen, die aus den feindlichen Lagern geflüchtet sind und zu uns zurückgefunden haben. Thanoiwachen sind anscheinend leicht abzulenken.« Er beschrieb kurz die letzten Berichte über Größe und Zusammensetzung der Truppen des Valdans und darüber, wo sie ihr Hauptlager errichtet hatten. »Es hatte natürlich Gerüchte gegeben, daß jemand sehr Mächtiges auf den Gletscher gekommen sei, aber die Zerstörung von Haudos und Terves Dorf war der erste Beweis für uns, daß es eine böse Macht war. Seitdem kommen fast täglich Nachrichten von neuen Angriffen.« Brittain wandte sich ab, denn er schien mit starken Gefühlen zu kämpfen. Als er Tanis wieder ansah, war sein Gesicht gefaßt, aber blaß. »Bitte vergib mir. Terves und Haudos Mutter war meine Schwester.«
Brittain zwang sich, in sachlichem Ton mit seinem Bericht fortzufahren. »Wir haben gehört, daß der Böse unter dem Eis lebt und daß der Eingang zu seinem Bau nahezu unsichtbar ist. Aber unsere Spione haben ihn gefunden und können ihn auf einer Karte exakt zeigen. Und was noch besser ist, sie können uns hinführen. Sieh nur! Einer von ihnen übt mit deinem Freund, auf einer Eule zu reiten.«
Noch während dieser Worte fegten vier Eulen so dicht über ihre Köpfe hinweg, daß sie fast die Spitzen der Eisvolkhäuser berührten. Vier Männer in Pelzmänteln klammerten sich an die Hälse ihrer Vögel und schrien in einer fremden Sprache. Caven, der Klecks ritt, gab von hinten die Richtung an. Der Anblick ließ den Anführer des Eisvolks milde lächeln. »Sie rufen in der Zunge unserer Väter den Eisbären um Schutz an«, erklärte er. Dann wurde er wieder ernst.
»Wir haben schauerliche Gerüchte über diesen Bösen gehört, und sie werden mit jedem Tag schlimmer«, sagte Brittain, der sich neben einem Haus auf eine Eisbank setzte. Als er auf den leeren Platz neben sich wies, setzte auch Tanis sich hin.
»Gerüchte?« fragte der Halbelf nach.
Brittain nickte. »Von tödlichem Eis, das seine Opfer festhält, bis sie sterben – oder durch Magie befreit werden. Unser Verehrter Kleriker hat eine Salbe, die seiner Meinung nach das Eis schmelzen läßt, aber er gibt zu, daß er noch keine Gelegenheit hatte, sie auszuprobieren.«
Tanis merkte sich das, drängte den Anführer jedoch fortzufahren.
»Wir wissen, daß der Böse… daß dieser Valdan einen mächtigen Zauberer hat. Wir wissen, daß der Zauberer alt und gebrechlich wirkt, und unser Verehrter Kleriker ist der Meinung, daß die Kraft des Zauberers durch den Druck dieses Valdans nachläßt. Darum haben wir Grund zu hoffen. Aber die jüngsten Gerüchte sind besonders beunruhigend.«
»Und weshalb?«
»Angeblich hat der Valdan einen neuen Kommandanten mit großer praktischer Erfahrung, der die feindlichen Truppen in den letzten Tagen zu einem tödlichen Angriff auf ein Dorf des Eisvolks geführt hat.«
»Was weißt du über diesen neuen Kommandanten?« drängte Tanis.
»Nur, daß es sich um eine Frau handelt.«
Tanis merkte, wie er blaß wurde, doch er sagte nichts. Caven und seine Schüler aus dem Eisvolk kamen ausgelassen von ihrem Übungsflug zurück. Brittain scheuchte alle in das große Mittelhaus zum Abendessen – und zum Pläneschmieden.
19
Der Angriff
Kniend wartete Tanis im Eisvolkdorf darauf, daß der Verehrte Kleriker mit Xanthars Bestattung begann. Hinter dem Halbelfen hatten mehrere hundert Eulen Stellung bezogen.
Zu dieser Jahreszeit herrschte im Eisreich das, was man dort als Frühling bezeichnete, doch die Zeichen hierfür waren spärlich. Der bitterkalte Winter wurde etwas milder. Die windgepeitschten Bergzüge lagen immer länger im Tageslicht, und die Zeit der Dämmerung dehnte sich aus. Obwohl das Lärmen des Eisvolks Caven und Tanis mitten in der Nacht geweckt hatte, war es noch immer hell genug, um ohne Hilfe der Walroßöllampen sehen zu können.
Tanis hatte sich gegen Cavens Murren taub gestellt. Er trug seine mitgenommene Reisekleidung, über die er einen langen Mantel aus schwarzem Robbenfell geworfen hatte. Der Halbelf hatte die seitlichen Säume des Mantels wie Caven und die Eisvolkkrieger unten mit dem Dolch aufgeschlitzt, damit er den warmen Pelz auch auf dem Rücken der Rieseneulen bequem tragen konnte. Die Dorfbewohner hatten Stunden damit zugebracht, Harnische aus Seehundshaut anzufertigen, die dem glichen, den Tanis jetzt in seinen Packsack steckte, doch ihre wiesen eine kleine Veränderung auf: eine Schlinge, die den Eissplitterer der Eisvolkkrieger halten sollte. Nachdem Tanis noch die Maske zum Schutz vor Schneeblindheit eingesteckt hatte und in die gefütterten Stiefel geschlüpft war, die Brittain ihm geborgt hatte, stampfte er zur Tür. Er mußte sich tief bücken, um ins Freie zu treten. Die Menschen des Eisvolks bauten ihre Eingänge so klein und niedrig wie möglich, um die Wärme im Bau zu halten. Caven folgte dem Halbelfen dicht auf den Fersen.