Schon lagen über hundert feindliche Soldaten regungslos auf dem Boden, und Brittain hatte keinen aus seiner Truppe verloren. Wieder jubelte das Eisvolk, und diesmal kam ein Echo von den Gefangenen dort unten zurück. Wieder und wieder suchte Tanis das Gelände ab. Caven auf Klecks gesellte sich zu ihm.
»Irgendeine Spur von Kit?« wollte Caven wissen.
»Nichts.«
»Und der Valdan? Oder Janusz?«
»Auch nichts.«
»Gut. Wir haben sie überrascht.«
Die Minotauren hatten offensichtlich begriffen, daß zusammengezogene Truppen aus der Luft leicht zu verwunden waren. Sie verteilten sich und zogen Katapulte aufs Schlachtfeld. Die Stiermenschen trieben die konfusen Ettins vor sich her und zwangen die zweiköpfigen Ungeheuer gegen ihren Willen in die Schlacht. Bald mußte Brittains Streitmacht dicken Steinen und denselben Eisbrocken ausweichen, die sie auf die Minotauren geschleudert hatten. Tanis sah, wie ein Stein einer Eule den Flügel brach, worauf der Vogel und sein Eisvolkreiter schreiend in das Lager des Valdans stürzten. Eine zweite Salve Steine und Eis von den Katapulten tötete drei weitere Eulen mit ihren Reitern.
Unten gellten von Osten her weitere Schreie. Tanis sah eine Gruppe Krieger mit Frostsplitterern, die ihre Eulen dicht über die Thanoiwachen streichen ließen und mit ihren Eiswaffen auf diese einschlugen. Dann flogen weitere Eulen mit Harnisch, aber ohne Reiter, tief über die Pferche mit den Gefangenen hinweg. Mit Schnäbeln und Klauen griffen sie die Walroßmenschen an. Nach dem dritten Angriff stieg jede reiterlose Eule mit einem Eisvolksklaven in den Krallen wieder auf. Die Vögel packten die Menschen an den Kleidern und trugen sie aus dem Lager heraus. Ein Stück weiter landeten sie und bedrängten die gerade befreiten Sklaven, auf ihren Rücken zu steigen. Die Gefangenen waren schwach, doch die Mutigsten unter ihnen kletterten tapfer auf die Rieseneulen. So verstärkte sich die Truppe der Angreifer, während weitere Eulen den Rest der Gefangenen aus dem Eisvolk befreiten.
In diesem Augenblick stieß Klecks einen Schrei aus, dem sich Caven anschloß. Ein zackiges Stück Eis raste von einem Katapult aus auf die beiden zu. Klecks tauchte verzweifelt nach rechts ab, während Goldener Flügel nach links schoß. Da Tanis sich bereits an die Unwägbarkeiten beim Eulenreiten gewöhnt hatte, umklammerte er instinktiv den Harnisch und preßte sich dicht an den Rücken der braunen Eule. Doch Caven schwankte. Er hatte plötzlich beide Hände frei, Klecks versuchte, seine eigene Bewegung auszugleichen, doch gleichzeitig warf Caven sich in die andere Richtung. Mit einem lauten Schrei rutschte der Kerner von der Eule und stürzte ab. Klecks schoß ihm nach.
Tanis zog Goldener Flügel am Flügel. »Hilf ihnen!« sagte der Halbelf. »Ich kann mich festhalten! Los!«
Ohne zu zögern, tauchte die goldfarbene Eule Klecks hinterher. Tanis umklammerte den Harnisch fester. Seine Augen tränten durch den Fahrtwind des Sturzflugs. Goldener Flügel schoß fast senkrecht abwärts. Die Flügel hatte er fest an die Seiten gelegt und hielt damit die Beine des Halbelfen fest. Klecks sauste in derselben Haltung nach unten.
Plötzlich war Klecks neben dem fallenden Caven, dann unter ihm. Tanis’ Eule schoß auf den Kerner zu, der nur noch wenige Fuß vor ihnen war. Dann breitete Goldener Flügel mit einem Schnappen die Flügel aus, hob den Kopf, senkte ruckartig den kurzen Schwanz und streckte die verhornten Füße aus. Die Klauen der Eule packten Cavens schwarzen Mantel an der Rückseite, hielten ihn fest – und rutschten dann ab.
Durch diesen Einsatz kamen Goldener Flügel und Tanis ins Taumeln. Doch Cavens Fall wurde gebremst. Der Kerner plumpste der Länge nach auf Klecks’ Rücken, ergriff den Harnisch und hielt sich fest. Beide Eulen flatterten heftig, während der Boden wirbelnd auf sie zukam. Es gelang ihnen, im Schnee zu landen, doch Klecks knickte seitlich ein, wodurch Caven heftig auf den Boden prallte, und Goldener Flügel überschlug sich zweimal. Tanis rutschte in den Schnee, als die braune Eule sich drehte.
»Tod den Menschen!« Es war ein tiefer Schrei mit einem eigenartigen Akzent. Der Halbelf rappelte sich schnellstmöglich auf, um sich im Schnee seinem neuen Gegner zu stellen, erstarrte jedoch, als er feststellte, daß der Schrei überhaupt nicht ihm galt. Vor dem benommenen Caven Mackid stand der Minotaurus, den Delged als Toj erkannt hatte. An seiner Nase baumelte ein Ring, ein weiterer in einem Ohr. In seiner muskulösen Hand baumelte eine Doppelaxt. Das Monster brüllte einen Schlachtruf aus Mithas. Überall um sie her ertönten die Schreie kämpfender und sterbender Minotauren, Ettins und Thanoi.
Caven kam orientierungslos auf die Knie und tastete nach seinem Schwert. Doch die Waffe war fort, war irgendwo in den Schnee gefallen. Das Brüllen des Minotaurus ging in Lachen über, das schmetternd über das gefrorene Land hallte. Tanis griff nach seinem Schwert. Der Halbelf bemerkte Goldener Flügel, der neben ihm stand. Die Eule warf sein Schwert neben ihm in den Schnee. Mit erneutem Brüllen hob der Minotaurus die Axt hoch über Cavens Kopf.
»Begegnen die Minotauren von Mithas so ihren Feinden?« rief Tanis dem Ungeheuer zu. »Indem sie sie angreifen, wenn sie ohne Waffe sind?« Mit erhobenem Schwert kam der Halbelf auf den Minotaurus zu. Er ging dem gewaltigen Kerl gerade bis zu den breiten Schultern.
Der Minotaurus baute sich grollend vor dem Halbelfen auf. »Gewagte Worte von einem mickrigen Elfen.« Hinter dem Minotaurus stand Caven auf und holte sein Schwert. Da der Minotaurus abgelenkt war, griff der Kerner ihn von hinten an. Tanis schloß sich dem Kampf an.
Toj fing den Angriff geschickt ab. Während er Mensch und Halbelf zurücktrieb, winkte er den Thanoi und Ettins ab, die ihm zur Hilfe kommen wollten. Die anderen Minotauren boten keine Hilfe an. Sie nickten Toj bloß gemessen zu und schossen weiter mit Katapulten auf die Angreifer aus der Luft. Tojs Doppelaxt schwang vor Tanis und Caven auf und ab. In der linken Hand hielt der Stiermensch eine lange Peitsche.
»Wir können ihn besiegen«, sagte Tanis zu Caven.
»Ich weiß«, sagte der Kerner. Der Mann hatte jetzt keinerlei Furcht, wie Tanis bemerkte, denn der Söldner brannte darauf, sich mit dem Minotaurus zu messen. »Auch Minotauren haben ihre schwachen Punkte.«
»Sei da nicht so sicher, Mensch«, kam die Antwort von Toj. »Ihr solltet euch lieber ergeben, du und dein Elfenfreund.«
»Tu’s nicht, Halbelf«, sagte Caven. »Er bringt dich um. Minotauren machen keine Gefangenen.«
Wo lag die Schwäche dieses Minotaurus? Caven überlegte. Vielleicht wetten? So hatte Caven schließlich auch Malefiz gewonnen. »Auf dem Schlachtfeld sind wir wohl gleich stark, Stiermensch, du allein gegen uns beide. Vielleicht sollten wir drei das hier lieber mit einem Knochenspiel beilegen.«
»Knochenspiel?« wiederholte Toj. Seine Axt wurde etwas langsamer, denn er starrte verdutzt den Kerner an. »Du willst auf dem Schlachtfeld spielen?« In den Worten des Minotaurus lag Unglauben. Seine Hufe kratzten aufgeregt über das Eis.
»Außer wenn du Angst hast zu verlieren«, sagte Caven wegwerfend. »Das ist nämlich wahrscheinlich. Ich hab’ ein gutes Händchen mit Knochen.«
Toj schnaubte. »Du willst mich ködern, Mensch.«
»Der Sieger bekommt alles«, fuhr Caven fort. »Wenn du gewinnst, sind wir deine Gefangenen. Wenn wir verlieren, haben wir dich.« Er flüsterte Tanis zu: »Fertigmachen zum Angriff.«
Toj stand wie angewurzelt da. Der Minotaurus hielt immer noch die Axt in der Rechten, die lange Peitsche in der Linken. Ein durchtriebener Ausdruck machte sich auf dem Stiergesicht breit. »Ist einen Versuch wert«, sagte Toj. Caven, der immer noch sein Schwert in der Hand hielt, ging auf den Minotaurus zu. Dann warf sich der Kerner auf den Minotaurus und stach mit dem Schwert zu. »Jetzt, Tanis!« schrie er.
Aber Tanis war bereits unterwegs. Er warf sich ebenfalls auf Toj und wich gerade rechtzeitig der tödlichen Klinge der Axt aus. Der Halbelf fuhr herum und streifte den Leder- und Kettenharnisch seines Gegners. Blut rann an Tojs Seite herab.