„FROB!“ korrigierte sich der Creppelianer schnell.
„Richtig.“
Conway fragte sich, ob dieser AMSL nun ein wenig gescheiter oder einfach nur etwas unbefangener als die anderen war. Jedenfalls nahm er sich vor, ihn ganz besonders im Auge zu behalten, denn einen guten Assistenten konnte er auf seiner Station immer gebrauchen.
Nachdem sich Conway von dem Nidianer mit einer kurzen Handbewegung verabschiedet hatte, versammelte er wieder seine Schäfchen um sich und dirigierte sie zur fünf Ebenen tiefer gelegenen FGLI-Aufnahmestation. Anschließend suchten sie weitere Stationen auf, bis Conway entschied, seine Schützlinge mit den komplexen und weit auseinandergelegenen speziellen Einrichtungen und Apparaturen des Orbit Hospitals etwas vertrauter zu machen, ohne deren kontinuierlichen und effizienten Einsatz eine solch gewaltige Einrichtung wie dieses Weltraumkrankenhaus nicht hätte funktionieren und die Patienten und das technische wie medizinische Personal nicht hätten leben können.
Conway bekam allmählich Hunger, und es war an der Zeit, den Neulingen ihre entsprechenden Kantinen und Speisesäle zu zeigen.
AACPs nahmen ihre Nahrung nicht auf herkömmliche Weise zu sich, sondern legten sich dazu während ihrer Schlafphasen auf speziell zubereiteten Humus, um sich so die notwendigen Nährstoffe zuzuführen. Nachdem er sie entsprechend untergebracht hatte, zeigte er dem PVSJ den riesigen, dämmrigen Speisesaal, in dem die Chloratmer aßen, so daß am Schluß nur noch er, die beiden DBLF-Raupen und der AMSL übrigblieben.
Die größte Kantine im Orbit Hospital, die den Sauerstoffatmern vorbehalten war, lag gleich um die Ecke. Deshalb zeigte er sie den beiden Kelgianern, die sich sofort zu einer Gruppe ihrer eigenen Spezies gesellten. Von Hunger getrieben, warf er noch kurz einen sehnsüchtigen Blick zu dem für Chefärzte reservierten Bereich hinüber, bevor er wieder hinauseilte, weil er sich zu seinem Leidwesen auch noch um die Unterbringung des Creppelianers zu kümmern hatte.
Um die für die Wasseratmer zuständige Verpflegungsstelle zu erreichen, war ein etwa fünfzehnminütiger Weg durch einige der am stärksten frequentierten Flure und Gänge des Hospitals zu bewältigen. Wesen aller nur denkbaren Formen und Größen flatterten, krochen oder gingen an ihnen vorbei. Conway hatte sich daran gewöhnt, von einem elefantenartigen Tralthaner beiseite gedrängt zu werden oder um einen der empfindlichen, kleinen LSVOs vorsichtig herumzugehen. Der Creppelianer jedoch führte sich wie ein gepanzerter Tintenfisch auf, der manchmal vor lauter Angst wie auf Eiern ging, und auch die Blubbergeräusche in seinem Anzug waren merklich stärker geworden.
Conway versuchte den AMSL zu beruhigen, indem er den Oktopoden bat, ihm etwas über seine bisherigen Krankenhauserfahrungen zu berichten, hatte damit aber nur wenig Erfolg. Als sie um eine Ecke bogen, sah Conway plötzlich seinen alten Freund Dr. Prilicla aus einem Seitengang hervorhuschen.
Der AMSL stieß einen gellenden Angstschrei aus, und seine acht Beine holten kurz aus und schlugen blitzschnell die entgegengesetzte Richtung ein. Von einem der Tentakel wurde Conway mit voller Wucht in die Kniekehlen getroffen. Er knickte unwillkürlich zusammen und fiel zu Boden, während der Oktopode wild schreiend durch den Korridor floh.
„Verdammter Mist!“ fluchte er laut, was er im nachhinein als bemerkenswert zurückhaltend empfand.
„Das ist allein meine Schuld, ich hab den Oktopoden erschreckt“, entschuldigte sich Prilicla und eilte Conway sofort zu Hilfe. „Haben Sie sich verletzt?“
„Ausgerechnet Sie wollen ihn erschreckt haben?“
Die liebenswürdige, spinnenartige Kreatur vom Planeten Cinruss fuhr fort: „Ich fürchte, ja. Das Überraschungsmoment, verknüpft mit einer anscheinend tiefverwurzelten Angstneurose in bezug auf fremdartige Lebensformen, hat bei dem Wesen diese Panikreaktion ausgelöst. Es hat jetzt zwar furchtbare Angst, hat seine Gefühle aber wenigstens noch einigermaßen unter Kontrolle. Sind Sie verletzt worden, Doktor?“
„Nein, nur meine Gefühle“, gammelte Conway. Er rappelte sich wieder hoch und nahm die Verfolgung des Creppelianers auf, der mittlerweile außer Sicht- und ziemlich sicher auch außer Hörweite war.
In einer Mischung aus Kurzstreckensprint und langsamem Walzer kam Conway im Kielwasser des AMSL mit raschen Zickzackbewegungen relativ hurtig voran. Seinen Vorgesetzten rief er ein „Entschuldigen Sie bitte“ zu, Kollegen und Untergebene brüllte er einfach mit „Platz da!“ an. Schon bald begann er, den AMSL einzuholen — was wieder einmal bewies, daß man sich auf zwei Beinen weit schneller fortbewegen konnte als auf acht Gliedmaßen —, und er war mit dem Oktopoden bereits fast auf gleicher Höhe, als dieser auf einmal in einen Lagerraum für Wäsche verschwand und somit hübsch in der Falle saß. Conway blieb vor der noch geöffneten Tür stehen, ging durch sie hindurch und zog sie fest hinter sich zu.
Noch völlig außer Atem fragte er so ruhig er konnte: „Warum sind Sie eigentlich weggerannt?“
Plötzlich sprudelten die Worte aus dem AMSL nur so heraus. Wie üblich filterte der Translator sämtliche Untertöne mit emotionalem Gehalt heraus, aber allein an der ungeheuren Geschwindigkeit seiner Worte erkannte Conway, daß der Creppelianer etwas Ähnliches wie einen hysterischen Anfall haben mußte. Während er dem AMSL zuhörte, wurde ihm klar, daß Prilicla die Empfindungen des Oktopoden richtig gedeutet hatte: Vor ihm stand ein xenophober Neurotiker, das stand nun einwandfrei fest!
Wenn du nicht ganz gehörig aufpaßt, Freundchen, wird dich O’Mara furchtbar in die Mangel nehmen, fluchte er in Gedanken.
Selbst wenn man äußerste Toleranz und gegenseitigen Respekt beim Personal voraussetzte, gab es im Orbit Hospital doch noch Anlässe genug zu Reibereien. Potentiell gefährliche Situationen entstanden in erster Linie durch Unwissenheit und Mißverständnisse, aber auch dann, wenn ein Wesen eine neurotische Xenophobie entwickelte, die seine geistige Stabilität oder Leistungsfähigkeit oder beides zusammen beeinträchtigte. Ein Arzt von der Erde zum Beispiel, der eine unbewußte Angst vor Spinnen hatte, würde einem cinrusskischen oder illensanischen Patienten niemals eine angemessene klinische Versorgung zuteil werden lassen können, die zu seiner Behandlung notwendig wäre. Und wenn umgekehrt ein Cinrussker wie Prilicla einen solchen terrestrischen Patienten behandeln würde, dann.
Als Chefpsychologe war es O’Maras Aufgabe, solche Probleme rechtzeitig zu erkennen und möglichst noch im Keime zu ersticken oder — falls alles nichts nützte — das potentiell gefährlichere Individuum aus dem Orbit Hospital zu entfernen, bevor sich aus einer solchen Auseinandersetzung ein offener Konflikt entwickeln konnte. Conway vermochte sich nicht einmal vage vorstellen, wie O’Mara auf so einen gewaltigen AMSL-Riesen reagieren würde, der vor einer solch zerbrechlichen Kreatur wie Dr. Prilicla vor Angst geflohen war.
Als der Wortschwall des Creppelianers allmählich abflaute, hob Conway beruhigend die Hand und sagte: „Soweit ich Sie bislang verstanden hab, hat Doktor Prilicla also eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit einem kleinen amphibischen Raubtier auf Ihrem Heimatplaneten, und Sie haben in Ihrer Jugend ein äußerst grauenhaftes Erlebnis mit einem dieser Tiere gehabt. Aber Doktor Prilicla ist kein Tier, und die Ähnlichkeit ist rein äußerlich. Zudem dürfte er für Sie alles andere als eine Bedrohung darstellen, da Sie ihn mit einer einzigen unnachsichtigen Bewegung bereits töten könnten.“
Er hielt kurz inne und schloß mit ernstem Ton: „Würden Sie, nachdem Sie das jetzt wissen, bei einer erneuten Begegnung mit diesem Wesen wieder vor lauter Angst davonrennen?“
„Ich. ich weiß nicht. aber mag sein“, antwortete der AMSL nur zögernd.
Conway seufzte. Er mußte sich unwillkürlich an seine eigenen ersten Wochen im Orbit Hospital erinnern und an die furchteinflößenden, alptraumhaften Kreaturen, die ihn noch im Schlaf verfolgt hatten. Was die Alpträume damals ganz besonders schrecklich gemacht hatte, war die Tatsache, daß es sich dabei nicht um Hirngespinste, sondern um faßbare Realitäten gehandelt hatte, die in vielen Fällen nur ein paar Kabinen neben seiner untergebracht waren.