Als Conway plötzlich bewußt wurde, daß er sich gar nicht auf der Station eines Hospitals befand, auf der solche Bilder erfreulich normal waren, sondern auf der Straße in einer Stadt, verschlug es ihm die Sprache, und er blieb unwillkürlich wie angewurzelt stehen.
„Was mich wirklich trifft, ist, daß viele dieser Leiden heilbar sind“, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Vielleicht sogar alle. Schließlich hatten wir seit einhundertundfünfzig Jahren keinen Fall von Epilepsie mehr und.“
„. und am liebsten würden Sie jetzt auf alle und jeden mit einer Spritze losgehen und ihnen die angezeigten Gegenmittel verabreichen“, warf Stillman mit grimmiger Miene ein. „Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es auf dem gesamten Planeten so aussieht wie hier. Und schließlich würde es überhaupt nichts nützen, nur eine Handvoll Menschen zu heilen, Sie sind nämlich für eine sehr große Station verantwortlich, Doktor.“
„Ich hab die Berichte gelesen“, entgegnete Conway knapp. „Allerdings hat mich das darin enthaltene Zahlenmaterial nicht auf die reale Situation vorbereitet, die sich einem hier.“
Er ließ den Satz unvollendet. Sie hatten an einer belebten Kreuzung haltgemacht, und Conway bemerkte, daß sowohl der Fußgänger- als auch der Fahrzeugverkehr entweder langsamer geworden oder sogar ganz zum Stillstand gekommen war. Schließlich sah er auch den Grund dafür.
Ein großer Wagen kam die Straße entlang. Er war vollständig rot lackiert und mit rotem Stoff behangen und besaß, anders als die übrigen Fahrzeuge in seiner Umgebung, keinen Eigenantrieb. An jeder Seite waren in gleichmäßigen Abständen kurze Griffe befestigt, und an jedem Griff ging, humpelte oder hinkte ein Etlaner und schob den Wagen voran. Conway wußte bereits, daß er hier Zeuge einer Beerdigung wurde, noch bevor Stillman seine Baskenmütze abnehmen und er dessen Beispiel folgen konnte.
„Und jetzt werden wir das Hospital besuchen“, sagte Stillman, als die Prozession vorbeigezogen war. „Falls jemand Fragen stellt, lautet meine Geschichte, daß wir nach einem kranken Verwandten namens Mennomer suchen, der letzte Woche eingeliefert worden ist. Auf Etla ist das ein Name wie Schmidt. Aber es ist unwahrscheinlich, daß wir gefragt werden, weil praktisch jeder Bürger seinen Teil zur im Hospital zu leistenden Arbeit beiträgt, und das Personal dadurch an das ständige Kommen und Gehen solcher Teilzeithilfskräfte gewöhnt ist. Sollten wir zufällig einem medizinischen Offizier des Monitorkorps begegnen, was sehr gut möglich ist, dann nehmen Sie ihn einfach gar nicht zur Kenntnis.
Und falls Sie sich wegen der Etlaner Sorgen machen sollten, die möglicherweise unter Ihren Verband schauen wollen“, fuhr Stillman fort, als wenn er praktisch Conways Gedanken lesen konnte, „dann können Sie ganz beruhigt sein — die sind viel zu beschäftigt, um auf Verletzungen neugierig zu sein, die schon längst behandelt worden sind.“
Sie verbrachten zwei Stunden im Hospital, ohne auch nur ein einziges Mal die Geschichte über den angeblich kranken Mennomer erzählen zu müssen. Von Anfang an war zu erkennen, daß sich Stillman im Hospital gut auskannte und sich hier offensichtlich schon des öfteren aufgehalten hatte. Doch waren stets irgendwelche Etlaner in der Nähe, so daß Conway ihn nicht fragen konnte, ob er sich hier zuvor als Beobachter des Monitorkorps oder als getarnter Teilzeit-Krankenpfleger eingefunden hatte. Einmal erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen Korpsarzt, der einem etlanischen Mediziner bei der Entfernung eines Empyems aus der Brusthöhle zusah, und dem Gesichtsausdruck des Korpsarztes war deutlich zu entnehmen, wie gerne er die dunkelgrünen Ärmel hochgekrempelt und die Operation selbst durchgeführt hätte.
Die Chirurgen waren nicht in Weiß, sondern in leuchtendes Gelb gekleidet. Einige der Operationstechniken grenzten ans Barbarische. Und der Gedanke an Isolierstationen oder abgegrenzte Pflegebereiche war den Etlanern offensichtlich nie in den Sinn gekommen — oder vielleicht doch, räumte Conway in Gedanken fairerweise ein, aber diese Idee war wahrscheinlich durch die völlig unvorstellbare Überbelegung praktisch nicht zu verwirklichen gewesen. Bedachte man die dem Hospital zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und die gewaltigen Schwierigkeiten, denen es gegenüberstand, dann handelte es sich hier durchaus um ein sehr gutes Krankenhaus. Conway hielt viel von dieser Einrichtung und, nach dem zu urteilen, was er bislang von den Mitarbeitern gesehen hatte, auch vom Personal.
„Das hier sind nette Leute“, drückte er es zu einem späteren Zeitpunkt ihres Krankenhausbesuchs ziemlich unangemessen aus. „Ich kann nicht verstehen, warum sie damals in dieser feindlichen Weise auf Lonvellin losgegangen sind. Irgendwie scheinen die Etlaner gar nicht der Typ dafür zu sein.“
„Aber sie haben es nun mal getan“, erwiderte Stillman grimmig. „Alle, die nicht zwei Augen, zwei Ohren, zwei Arme und zwei Beine haben, oder bei denen diese Dinge zufällig an den falschen Stellen sitzen, werden abgelehnt. Das ist eine Haltung, die den Etlanern schon in sehr jungem Alter eingetrichtert wird, praktisch mit dem Abc. Ich wünschte, wir wüßten den Grund dafür.“
Conway schwieg. Er dachte daran, daß man ihn hergeschickt hatte, um für diesen Planeten medizinische Hilfsmaßnahmen zu organisieren, und auf keinen Fall würde er das große Rätsel lösen, indem er verkleidet in einem kleinen Teil dieses Puzzles herumschlenderte. Es war an der Zeit, sich an die eigentliche Arbeit zu machen.
Als ob er schon wieder Conways Gedanken lesen könnte, sagte Stillman: „Ich glaube, wir sollten jetzt zurückgehen. Würden Sie lieber im Verwaltungsgebäude oder auf dem Schiff arbeiten, Doktor?“
Conway sagte sich, daß er mit Stillman einen wirklich guten Berater an seiner Seite hatte, und antwortete laut: „Im Bürogebäude, bitte. Im Schiff verlaufe ich mich zu leicht.“
Und so erhielt Conway ein kleines Büro mit einem großen Schreibtisch, einer Gegensprechanlage, um mit Stillman in Verbindung treten zu können, und mit einigen weiteren, weniger lebenswichtigen Kommunikationsgeräten. Nach seinem ersten Mittagessen in der Offiziersmesse nahm er zukünftig alle Mahlzeiten mit Stillman im Büro ein. Manchmal schlief er sogar im Büro und hin und wieder überhaupt nicht. Die Tage verstrichen, und durch das Lesen von immer mehr Berichten, für deren unablässigen Nachschub Stillman sorgte, brannten ihm die Augen allmählich wie heiße, rauhe Murmeln. Er reorganisierte die medizinischen Nachforschungen, ließ einige der Korpsärzte zu Besprechungen kommen oder suchte diejenigen persönlich auf, die aus den verschiedensten Gründen nicht bei ihm vorsprechen konnten.
Eine große Anzahl der Berichte lagen außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs und waren Kopien von Untersuchungen über rein soziologische Probleme, die Williamsons Männer durchgeführt hatten. Conway las sie in der unbestimmten Hoffnung, daß sie in irgendeinem Zusammenhang zu seinen eigenen Schwierigkeiten standen. Zwar war dies bei vielen auch der Fall, doch trug die Informationsflut häufig nur dazu bei, ihn noch mehr zu verwirren.
Unmengen von Blut- und Gewebeproben und alle anderen Arten von Proben wurden genommen. Sie wurden unverzüglich auf eins der drei Kurierschiffe gebracht, die das Monitorkorps Conway inzwischen zur Verfügung gestellt hatte, und schnellstens zum leitenden Diagnostiker der Pathologie im Orbit Hospital geflogen. Die Ergebnisse wurden über SübraumfUnk an die Vespasian übermittelt, auf Band gespeichert und lagen wenige Tage später in Form von Tonbandspulen auf Conways Schreibtisch. Man stellte ihm auch den Hauptcomputer des Schiffs zur Verfügung, beziehungsweise den Teil, der nicht mit Übersetzungen ausgelastet war. Und nach und nach schien sich aus der Flut zusammenhängender und unzusammenhängender Fakten wenigstens die äußerst vage Andeutung eines Schemas herauszukristallisieren. Unglücklicherweise handelte es sich um ein Schema, das für niemanden einen Sinn ergab; am allerwenigsten für Conway selbst. Schon näherte sich das Ende seiner fünften Woche auf dem Planeten Etla, und noch immer konnte er Lonvellin nur von äußerst geringen Fortschritte berichten.